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Anmerkung

Dieser Bericht erschien am Samstag/Sonntag 15./16. Mai 1999 auf

der Seite „Für den Bergfreund“ des Berchtesgadener Anzeigers

Am Schluss findet sich eine Liste der Gamssieger,

ein Artikel von Carl de Temple (1995) sowie

eine Sammlung auffindbarer Ergebnislisten und Zeitungsartikel.

Und alles wegen einer hölzernen Gemse...

Das 28. Rennen um die Watzmanngams (1999) – Beobachtungen von Albert Hirschbichler

In einer Zeit, in der die Mondlandung schon Geschichte ist, Voyager Sonden gestochen scharfe Bilder von Mars und Jupiter liefern und die Quantenphysik die letzten Geheimnisse von Materie und Energie entschlüsselt, versammelt sich drei Wochen nach Ostern jedes Jahr wieder eine Schar Unentwegter, eine eingeschworene Gesellschaft, auf Kühroint, um wie nicht ganz bei Sinnen auf Skiern durch das Watzmannkar zur Skischarte hochzurennen. Anschließend rast man nicht minder wahnwitzig, egal ob Bruchharsch oder Pappschnee, vorbei an Felsen und Bäumen wieder herunter. Und alles wegen einer hölzernen Gemse...

Wie ist so etwas möglich?

Gleich vorweg muss gesagt werden, dass auch die moderne Psychologie dieses für Außenstehende schwer oder überhaupt nicht verständliche Treiben noch keineswegs befriedigend zu erklären vermag. Eine Deutung scheint noch am ehesten zu gelingen unter Berücksichtigung von Erkenntnissen der vergleichenden Verhaltensforschung über Hierarchie- und Rangordnungen bei höheren Säugetieren, wie wir sie Forschern wie Konrad Lorenz oder Irenäus Eibl-Eibesfeldt verdanken. Man vergesse auch nicht die prähistorischen Anteile der menschlichen Persönlichkeit, unsere jahrtausendelange Geschichte als Jäger, zuvor Raubaffe. Das moderne Leben; Kultur und Zivilisation hindern uns heute auf beinahe inhumane Weise daran, seit Urzeiten angelegte elementare Bedürfnisse wie zum Beispiel Jagen oder Kämpfen auszuleben. Der Pokal, die Sporttrophäe: symbolische Beute einer Ersatzjagd des modernen Menschen? Und hier geht es auch noch um eine Gams!

Wie auch immer: Zum Rennen um die Watzmanngams versammelt sich an besagtem Tage die Elite des hiesigen Skitourismus. Und nicht nur das. Es bestehen starke Gründe für die Annahme, dass das Denken der meisten Teilnehmer bereits wochen- wenn nicht monatelang zuvor im Wesentlichen darum kreiste, mit welcher Ausrüstungsraffinesse, Trainingsmethode oder Ernährungseigenart es gelingen könnte, vorne dabei zu sein. »Einmal die Gams g´winnen...«, bereits ein geflügeltes Wort, der Traum eines jedes rechtschaffenen Skibergsteigers im Berchtesgadener Land.

Die vier Phasen

Zur Beschreibung der Ereignisse scheint eine Einteilung in vier Phasen nützlich: Die Vorwettkampfphase, das eigentliche Rennen, sowie eine frühere und spätere Nachwettkampfphase.

Erstere beginnt mit dem Eintreffen der Wettkämpfer am Ort des Geschehens, so gegen 9.30 Uhr. Es findet statt eine allgemeine Begrüßung (fast jeder kennt jeden), ein Beschnuppern der gegnerischen Ausrüstung, Felle werden warmgelaufen, Startspuren besichtigt, gegenseitige Beteuerungen werden ausgetauscht, das man wieder nicht zum Trainieren gekommen sei. Mit glitzernden Kampfanzügen, die wohlproportionierte Muskelpakete hauteng umschließen, versucht man den Gegner und die anwesende Weiblichkeit zu beeindrucken. Eine Unruhe liegt über dem Ganzen, die sich bis zum Start steigert. Felle werden ein letztes Mal gewachselt, Startnummern umgebunden, die Glykogenspeicher in den Waden ein letztes Mal mit Kraftnahrung versorgt, wobei das Sortiment von Bananen über klassische Energieriegel bis zur diskreten Einnahme geheimnisvoller hundefutterähnlicher Bröckchen, ja sogar einer gelb-gallertartig-schmierigen Substanz reichte, von deren Einnahme sich der in Altersklasse II startende Wettkämpfer hinter vorgehaltener Hand einen speziellen Turbo-Effekt versprach. Eine Dopingkontrolle gibt es bei der Gams zum Glück noch nicht. Nach und nach begeben sich alle an die Startlinie auf der schönen Kühroint-Wiese, die heuer noch meterhoch unter Schnee liegt, die Favouriten natürlich in der ersten Reihe. Eingeleitet wird das Rennen durch den Startschrei des Erben Helei, jedes Jahr wieder einige Minuten vor dem festgelegten Startzeitpunkt, wenn die geballten Energien nicht mehr im Zaum gehalten werden können.

Der Massenstart. Ein archaisches Ereignis. Eine Flutwelle aus Menschenleibern bricht los, eine Woge aus Körpern und fliegenden Skistöcken, Schnee spritzt, alles stochert und werkt und kämpft, Schulter an Schulter, Mann gegen Mann, um eine gute Position am Ende der Wiese, wo die Querung ins Kar beginnt und wo sich natürlich Stauungen ergeben, während sich die Favouriten schon in Riesenschritten vom Feld abgesetzt haben. Natürlich geht es auch heuer nicht ganz ohne technische Probleme ab. Einige Unglückliche stehen neben der Bindung oder wursteln mit den abgegangenen Fellen herum, die Aussicht auf eine gute Platzierung, auf Ruhm und Ehre, für dieses Jahr vertan. 

800 Höhenmeter in einer dreiviertel Stunde

im Startbereich kehrt Ruhe ein, während die Wettkämpfer der Skischarte zustreben, was bedeutet: 800 Höhenmeter oder etwa eine dreiviertel Stunde lang: Gehen jenseits der Schmerzgrenze, unter Nichtbeachtung der Sauerstoffschuld, die der Körper unmißverständlich rückmeldet, der schwarzen Sterndln, die immer wieder vor den Augen auftauchen, sowie des inneren Schweinehundes, der sich der Gedanken bemächtigt mit der zersetzenden Frage, wozu man sich das immer wieder antut.

Eine relative Erholungsphase im Flachstück unter der Jungfrau, dann die letzten Spitzkehren, inhuman steil gespurt heute. Man glaubt es kaum dass man da auch noch hinaufkommen soll und steht doch oben wenig später. Die Felle heruntergerissen, einige Male durchgeschnauft, die Bindung umgestellt und so schnell wie möglich wieder los, die Gesamtzeit zählt!

Der Zuschauer am Start ahnt das alles bloß. Nach wenig mehr als einer dreiviertel Stunde: eine Gestalt mit Startnummer nähert sich dem Ziel... eine Frau... nah am Ziel erst ist sie zu erkennen, die Siegerin der Damenklasse (auf der verkürzten Strecke über zirka 600 Höhenmeter), die momentan unschlagbare Judith Grassl, heute ihr fünfter Gams-Sieg. Die Musik spielt Tusch, Applaus, unmittelbar danach: der erste Mann, Franz Grassl kommt daher in Rennhocke, vor der Konkurrenz weit und breit keine Spur. Der Moar-Franzei, zum dritten Mal in Folge hat er heute die Gams gewonnen. Wie er da so unverbraucht lächelt, schaut er aus, als ob er bloß einmal vom Wald bis zum Ziel herübergerutscht wäre. Und das mit einer Gesamtzeit unter 50 Minuten, kaum zu glauben!

Ein Comeback

Die Musik spielt und zwei Minuten später kommen die nächsten an, der Jostl Sepp, der heute die aus dem Boxsport bekannte Regel „they never come back“ auf eindrucksvolle Weise widerlegt. Nach neun Jahren Gams-Abstinenz heute wieder der zweite Platz. Und das trotz der Prognose eines leitenden Funktionärs des Ramsauer Skiclubs, der dem Sepp die erschöpfungsbedingte Aufgabe spätestens unter der Jungfrau prophezeit hatte. Bei den Damen traf als zweite die Annemarie Palzer ein bevor sich die allseits bekannte Kathi Stangassinger mit der Ursi Baumgartner ein packendes Duell auf den letzten Metern lieferte. Beide landen zeitgleich auf Platz drei. Den dritten Platz bei den Herren erkämpft der Ramsauer Allrounder Wolfgang Palzer. Erst vereinzelt, dann immer mehr Wettkämpfer kommen im Ziel an. Eine gute Stunde nach dem Start darf das Rennen als beendet bezeichnet werden. Die meisten der achtzig Gestarteten haben das Ziel erreicht, dementsprechend ist der Trubel.

Wer da glaubt mit dem Feststehen der Plazierung sei die Sache nun gelaufen, der befindet sich im Irrtum. Bei den Wettkämpfern scheint vielmehr ein Bestreben vorzuliegen, Stärke und Durchhaltevermögen auch oder gerade bei dem was noch kommt zu demonstrieren: der frühen und späten Nachwettkampfphase. Die Wettkampfspannung ist wie weggeblasen, höchstens dass noch diskutiert wird wo dieses Mal die Sekunden verloren gingen, die den einen oder anderen Platz bedeutet hätten. Überflüssig die Erwähnung, dass der Wettkämpfer nach derartigen Strapazen von einem nicht unerheblichen Durst überrascht wird. Die durch zwanglose Plaudereien und Durstlöschung gekennzeichnete erste Nachwettkampfphase dauert bis in die zweite Nachmittagshälfte, bis die komplizierten Berechnungen des Zeitnahmeteams abgeschlossen sind und der langerwarteten Siegerehrung nichts mehr im Wege steht. Ein jährlich wiederkehrendes Ritual, worauf Kundige jeweils warten, ist der jährliche BH-Wechsel einer der bestaussehenden Skisportlerin des Berchtesgadener Landes. Hinter der Hütte, soweit weg dass man nicht mehr gut hin sieht, aber nicht soweit, dass man überhaupt nichts mehr sieht. Wer es einmal gesehen hat, der wird es nicht vergessen und im nächsten Jahr darauf warten.

Unter gebührendem Beifall erfolgt die Ehrung der nach Altersklassen gestaffelten Helden. Sektflaschen werden hierzu nicht einzeln sondern kübelweise gereicht. Dem die Siegerehrung durchführenden Funktionär, der selbstverständlich neben rhetorischer Begabung von hoher Trinkfestigkeit geraten sein muss, steht eine für das Küssen der (achtzig) Sieger zuständige Assistentin zur Seite.

Und so geht das Ereignis in der freundlich warmen Nachmittagssonne fließend über in die spätere Nachwettkampfphase, einem Treiben, das zu Bewusstseinszuständen führt, wie sie sich wohl auch bei primitiven Völkern erst nach langstündigem Buschtrommeln, Kauen oder Rauchen psychoaktiver Drogen und Aufführung ritueller Tänze entwickeln: eine Auflösung der Ich-Grenzen, ein Aufgehen des einzelnen in der Menge, ein gemeinsames Mitschwingen auf einer höheren Welle. 90 Flaschen Sekt wurden nebenbei gelehrt, der Bierkonsum unbekannt, jedenfalls erheblich.

Diese Phase konnte vom Verfasser bis Sonnenuntergang beobachtet werden. Die weiteren Ereignisse können anhand von Zeugenaussagen nur bruchstückhaft rekonstruiert werden. Der harte Kern verließ dann jedenfalls, wie man hörte, im Laufe des Abends in einem Durcheinander aus Rucksäcken, Skiern und anderen Ausrüstungsgegenständen auf der Ladefläche eines Pritschenwagens den Ort des Kampfes und der Festlichkeit.

Einen Tag später: Trotz müder Knochen und Aspirinbedarf weiß jeder, der dabei war, bis tief in sein Innerstes: Es war wieder das Höchste, unvergleichlich, die »Gams« eben... Die offiziellen Ergebnislisten liegen auf. Die Top 20 stehen wieder fest für ein Jahr, die zwanzig Platzhirsche unter den Skibergsteigern im Berchtesgadener Land.

Ps.: Die ersten fünf Jahre wurde die Gams mit Langlaufskiern gelaufen (Aufstieg und Abfahrt).

Kein Mensch konnte sich vorstellen dass es ein paar Jahre später von einem

Brausehersteller gesponserte hauptberufliche Skibergsteiger geben könnte.



Liste der Gamssieger 


Die (leider nicht ganz vollständige) Liste wurde erstellt

1972-78: nach Angaben eines Artikels ​von Carl de Temple (s. Anhang unten),

Folgezeit: Recherche von Frau Bärbel Sigl, Sektion Berchtesgaden des DAV, sowie Unterlagen Helmut Erben. 

Für die Bereitstellung Dank!

            (v) verkürzte Strecke (bis zum Feldherrnhügel)


Carl de Temple: Der Lauf um die Watzmanngams

Ein historisch interessanter Artikel, von einem der Erfinder der Gams selber verfasst, erschien 1995 im

Berchtesgadener Heimatkalender (Hrsg. Berchtesgadener Anzeiger, S.57-63). Da dieser Kalender wohl

kaum mehr verfügbar ist, findet der geneigte Gamsfreund hier eine Abfotografie.


Ergebnislisten und Zeitungsartikel

Im zweiten Lockdown gereichte mir die Sammlung und Sichtung aller

auffindbaren Ergebnislisten und Zeitungsartikel zur Gams gerade recht.

Quellen: 1972 - 2001 Fundus des Helmut Erben

ab 2001 Internetrecherche

Sollte irgendwas nicht stimmen oder wenn jemand Informationen zu den Jahren hat,

zu denen ich nichts gefunden habe, würde ich mich über Rückmeldungen freuen unter

a.hirschbichler@gmx.de

oder 08651 / 66577 

1/2       1972         (Die erste Gams - Bgd Anzeiger)

3         1974         (Artikel, Quelle unbekannt)

4         1980         (Ergebnisliste, Quelle H. Erben)

5-8       1981         Einladung zur 10. Watzmanngams (H. Erben), Artikel Bgd Anzeiger und R´haller Tagblatt (8)

9         1982         (Ergebnisliste, Quelle H. Erben)

10         1983         (Bgd Anzeiger)

11/12     1984         (Bgd Anzeiger)

 1/2       1985 (Bgd Anzeiger)

3/4        1986 (Bgd Anzeiger)

5/6        1987 "

7/8        1988 "

9            1989 "

10          1990 "

11/12    1991 "

  1     1992 (Bgd Anzeiger)

2       1993 "

3/4   1994 "

5/6   1995 "

7/8   1996 "

9       1997 "

10     1998 "

11     2000 "

12     2001 Sonderabfüllung 30 Jahre Gams von H. Erben

  1-3    2001 (Bgd Anzeiger und Ergebisliste)

4-6      2003 (Bgd Anzeiger und Ergebnisliste)

7-9      2012 (Bgd Anzeiger und Ergebnisliste)

10-12  2014 (Internet)

1        2016   Ergebnisliste

2-4    2017   Bgd Anzeiger

5-7    2018   Bgd Anzeiger

8        2019   Internet

Die Bilder vom Erben Helei wurden abfotografiert, darum leider keine hochwertige

Bildqualität. Aber in den Bildern steckt der Geist der Gams der früheren Jahre.

1 Die Kührointwiese unterm Watzmann. Ort des Kampfes und der Festlichkeit.

2 Start. Vor Aufregung verwackelte der Fotograf leider das Bild. In Bildmitte vorn der Erben Helei.

3 Der Erben Helei kurz vorm Ziel.

4 Im Zielgelände löst sich die Spannung.

5-8 Siegerehrung. Wer ist der Platzhirsch unter den Skibergsteigern im Berchtesgadener Land?

9 Dauersieger: Der Moar Franzei und seine Frau Judith.

10 Unvergessen. Der Bergführer Stöckl Ulli († 2019) war fast immer dabei.

11/12 Ebenso unvergessen: Der Ilsanker Hans ("Lawinen-Hansei" † 2018)

ging mit 60+ den meisten Jungen immer noch davon (Bild 12 rechts außen).

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