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Anmerkung:

Der Artikel erschien am Montag 8. 8. 2022 in den Heimatblättern des Reichenhaller Tagblatts, Titel dort: "Beim dritten Versuch kommt der Erfolg". 

 

Die Erstbegehung der Wartsteinkante

Im Juli 1936 kamen der Reichenhaller Anderl Hinterstoißer und der Berchtesgadener Toni Kurz in der Eiger-Nordwand ums Leben. Ein Jahr zuvor gelang ihnen mit der Wartsteinkante eine bemerkenswerte Erstbegehung an der Reiteralm. Anhand von Originalaufzeichnungen des Anderl Hinterstoißer soll hier an die beiden und ihre schwierige Erstbegehung erinnert werden.

Die Reiteralm

Almweiden und Steilwände

Die Reiteralpe, von den Einheimischen nur Reiteralm genannt, ist der westlichste der neun Gebirgsstöcke der Berchtesgadener Alpen, ein ausgesprochenes Plateaugebirge mit nach allen Seiten steil abfallenden Wänden. Ihren Namen hat die Reiteralm von der kleinen Ortschaft Reit im Saalachtal, von wo heute noch über den Alpa-Steig Vieh zu den „Almen von Reit“ aufgetrieben wird. Die Hochfläche kennzeichnen unzählige latschenbewachsene Höcker und Trichter, es finden sich aber auch blumenreiche Wiesen, Lärchen-und Zirbenwälder. Im südlichen Teil erheben sich die Reiter Steinberge mit dem Stadelhorn (2286 m) als höchstem Gipfel. Die größte Wiesenfläche, das Reitertrett, wird seit Jahrhunderten bis heute – wenn auch in viel geringerem Umfang – als Almweide genutzt. Nach Hofmann (2005) gab es 1659 allein auf der Hochfläche etwa 60 Almen, auf die von bayerischer Seite 400, vom Pinzgau aus 375 Stück Vieh aufgetrieben wurden. Als einziger Stützpunkt dient seit 1938 die Neue Traunsteiner Hütte (1570 m). Der bequemste Zustieg zur Hochfläche führt in etwa 3 Stunden von Oberjettenberg aus über den Schrecksattel (1608 m). Der hat seinen Namen vermutlich vom „Schreck“ der Sennerinnen angesichts des steilen Steiges durch die Felsen, den sie mit den Kühen ohne Verluste hinter sich bringen mussten. Erst anlässlich des Baues der Neuen Traunsteiner Hütte ab 1937 wurde der Weg durch Sprengungen verbreitert.

Wartstein

Der Wartstein (1758 m) ist eine Erhebung im Plateaurand der Reiteralm zwischen deren nördlichem Eckpunkt, dem Alphorn (1710 m) und dem Schrecksattel.

Der „Schreck“, wie er von den Bergsteigern genannt wird, ist die einzige Schwachstelle in den 4-500 Meter hohen Wandfluchten, die über Jettenberg vom Alphorn ausgehend über Hirschwieskopf, Hirscheck, Feuerhörndl, Wartstein und Wartsteinwand in nordwestlicher Richtung abfallen. Ganz in der Nähe des Wartstein-Gipfels liegt die Bergstation der Bundeswehr-Seilbahn, die seit 1965 die Auffahrt zum Gebirgsübungsplatz auf der Reiteralm ermöglicht. Die beinahe senkrecht gezogene Absturzlinie der Wartsteinkante mit den Loferer Steinbergen im Hintergrund ist ein markantes Detail im südlichen Panorama von Bad Reichenhall. An schönen Sommerabenden erstrahlt die ganze Wandflucht gelegentlich in einem leuchtenden Abendrot.

Die Seilschaft Anderl Hinterstoißer und Toni Kurz

Andreas (genannt Anderl) Hinterstoißer (*1914 in Bad Reichenhall) und Toni Kurz (*1913 in Berchtesgaden) waren in den 30er Jahren die führende Seilschaft im Berchtesgadener Land. Ihre Anstiege weisen Schwierigkeiten sowohl in freier als auch in hakentechnischer Kletterei auf, die bis in die späten 70er Jahre hinein, bis zum Aufschwung der Freikletterbewegung, kaum übertroffen wurden. Dabei zu bedenken ist die Ausrüstung der damaligen Zeit: Hanfseile, Eisenkarabiner, Kletterschuhe mit Manchonsohlen – wenn nicht barfuß geklettert wurde.

Eine erste, heute vergessene Route begehen die beiden 1932 an der brüchigen Rotleitenschneid im Hinteren Wimbachtal. (Nordostwand IV-V). Zwei Jahre später eröffnen sie dann eine schwierige Erstbegehung nach der anderen, Routen, die heute zu den Klassikern im extremen Fels der Berchtesgadener Alpen gehören. 1934 begeht Toni Kurz mit Karl Dorfer (in allen Führern bis heute fälschlicherweise „Dreher“ genannt) den Westwandriss am Kleinen Watzmann (VI). Alle anderen Routen klettern die beiden gemeinsam: 1934 die Südwestwand am Untersberg, 1935 die Wartsteinkante an der Reiteralm und die direkte Südkante des 3. Watzmannkindes, 1936 die Pfeilersüdwand am Untersberg und im gleichen Jahr schließlich noch ihr Meisterstück: die direkte Südkante des Großen Mühlsturzhorns, die bis in die 60er Jahre als schwierigste Kletterei der Berchtesgadener Alpen galt. Alle Routen bieten guten Fels und vorwiegend freie Kletterei im Schwierigkeitsgrad mindestens VI-, nicht selten mit anspruchsvollen hakentechnischen Passagen A1/A2, (A für „artifiziell“, künstlich) d.h. Passagen – meist senkrecht oder überhängend – die nur mit Hilfe von Mauerhaken und Trittschlingen bewältigt werden konnten.

Beide, Hinterstoißer wie auch Kurz, waren nicht nur Kletterer, sondern auch hervorragende Skisportler. In ihren teilweise erhaltenen Tourenbüchern sind viele Skitouren in den Berchtesgadener Bergen wie auch außerhalb, z.B. auf den Hochkönig oder den Großvenediger, festgehalten, wobei, wie damals üblich, die Anreise meistens mit dem Fahrrad erfolgte. So findet sich z. B. der Eintrag, dass man nach der Skibesteigung des Großvenedigers im Mai 1933 um 14.30 Uhr in Neukirchen – natürlich mit allem Gepäck – die Heimfahrt über 100 Kilometer mit den Rädern antrat.

Auch an Rennen, die nicht selten mit Skibruch endeten, wurde teilgenommen. Nach mehreren Spitzenplatzierungen wurde Anderl Hinterstoißer, der Mitglied des Skiclubs Bad Reichenhall war, sogar zu den Vorbereitungskursen für die Olympischen Spiele eingeladen. Nachdem er bei den Deutschen Meisterschaften 1936 im Abfahrtslauf zwar einen 6. Platz, in der Kombination aber nur Platz 16 belegt hatte, wurde er doch nicht in die Olympiamannschaft aufgenommen (nach Ringlstätter 2003).

Die Erstbegehung der Wartsteinkante

Die Nordkante des Wartsteins war schon seit vielen Jahren ein Problem, an dem sich mehrere Seilschaften der besten Kletterer damals, vornehmlich aus dem Traunsteiner Raum, versuchten. Folgend der Bericht über die Erstbegehung mit Bezug auf Aufzeichnungen des Anderl Hinterstoißer.

Erste Versuche

1934 war erste große Kletterjahr der beiden. Schon ziemlich früh im Jahr begingen sie „um in Form zu kommen“ die abgelegene Südwand des Kleinen Mühlsturzhorns und eine Woche später die Südkante des Großen Mühlsturzhorns, die damals schwierigste Kletterei in den Berchtesgadener Alpen. Laut Toni Kurz´s Tourenbuch benötigten sie für die Kante nur vier Stunden, eine heute noch respektable Zeit.

Im Juni 1934 starten sie einen ersten Versuch an der Wartsteinkante. Mit den Rädern ging es erst einmal schwerbepackt zum Soderbauern der damals auf dem heutigen Gelände der E-Stelle stand, dem Ausgangspunkt für Anstiege zur Reiteralm. Vom Weg zum Schrecksattel zweigt oben ein Steig ab, der, unter den Wänden querend, in Richtung Einstieg führt. Um 7 Uhr in der Früh erreichen sie nach Überwindung des Vorbaus dann den eigentlichen Einstieg in exponierter Lage auf einem Gratrücken.

Seile werden geordnet, Haken und Karabinern umgehängt, die erste Seillänge führt Hinterstoißer, ein Riss gerade hinauf, nicht allzu schwer, noch gut kletterbar.

30 Meter oberhalb ein Haken mit Seilschlinge. Bis hierher waren andere auch schon gekommen.

Wie weiter? Sie entdecken einen feinen Riss, in dem sich Toni Kurz mit Hilfe einiger Mauerhaken zehn Meter hinaufarbeitet, bis ein Überhang jegliches Weiterkommen verwehrt. Toni quert nach rechts, baut Stand an einigen schlechten Haken und lässt, in einer Sitzschlinge an den Haken festgebunden, Anderl nachkommen. Als der nachklettert erscheinen zwei andere am Einstieg, Traunsteiner, die als Bewerber um die Kante bekannt sind. Die konnten zunächst aber nicht mehr tun als zuschauen, in der Erwartung, dass die beiden ebenso wie alle davor bald umkehren würden. Hinterstoißer zitiert den Wortwechsel:

„So da obn werdns euch boid hoamschicka“ Die beiden waren aber anderer Ansicht: „Heut gehn ma nimmer oba, de Freid machma eich ned“.

Über ihnen ein glatter überhängender Riss in gelbem, brüchigem Gestein, kein Haken ist anzubringen. Einige Meter oberhalb eine abgesprengte Schuppe. Da kommen sie auf die Idee, das Seil mittels Hinaufwerfens einer Seilschlinge an der Schuppe zu verankern. Nach langen Bemühungen gelingt das endlich und Toni Kurz überwindet am fixierten Seil den Überhang, „schnaufend und prustend“.

Seilquergang

Weiter rechts zieht ein Riss hinauf bis unter den großen Überhang, in dem sie von unten schon die Schlüsselstelle der ganzen Wand vermuteten. Wie dahin kommen? „Toni schlägt einen Seilzughaken hängt den Strick ein und schiebt sich in die glatte Wand hinaus. Fast waagrecht hängt der Körper des Freundes in der Luft, weit ausgreifend tastet die Hand nach einer Ritze für einen erlösenden Mauerhaken.“ Sein Kamerad konnte nicht mehr tun als gespannt jede Bewegung des Freundes zu verfolgen, in der Hoffnung, dass die Haken hielten und nicht ein Sturz das Ende ihrer Bemühungen bedeutete. Schließlich erreicht Kurz ein Rasenpolster, „gerade groß genug, dass er sich draufsetzen kann, die Füße frei in der Luft hängend“. Toni Kurz führt auch die nächste Seillänge bis unter den großen Überhang, wo sie einen Standplatz vermuten. Die Hoffnung wird enttäuscht, es findet sich lediglich „ein nach außen abgeschrägter Tritt, der kaum so viel Reibung bietet, dass man einigermaßen darauf stehen kann“. Ohne einen sturzsicheren Haken anbringen zu können muss er Hinterstoißer nachkommen lassen. Der übernimmt die Führung: „Jetzt stehe ich unter dem unmöglichen Überhang, der sich nach 15 Metern ins Leere verliert. Toni sitzt unter mir in der Sitzschlinge und es sind keine besonders guten Haken denen er sich anvertrauen muss, doch diese Sicherung muss genügen“.

Sturz an der Schlüsselstelle

Hinterstoißer geht den überhängenden Riss an, kommt an schlechtsitzenden Haken einige Meter höher. „Gelbe Felsbrocken brechen ab und sausen an meinem Gefährten vorbei ohne aufzuschlagen in die Tiefe“. Als er keine weiteren Haken schlagen kann klettert er ein paar Meter frei hinauf. Schließlich der Versuch einen Spezialhaken in einem winzigen Riss unterzubringen: „Ein Hammerschlag genügt und er sitzt auf“. Er hängt noch eine Trittschlinge ein um sich auszurasten, aber: „Da – ich stürze in die Tiefe, warte auf den rettenden Ruck, doch es geht weiter, da, nochmals ein Ruck, der Freund hält, ich hänge“. Er ist unverletzt und kann die unten eingeschlagenen Haken erreichen. Da stellen sie fest, dass eines der beiden Seile bis auf einen dünnen Faden gerissen ist! Nach dem Ausbruch des Hakens lief das Seil über eine kleine Felsrippe. Die schnitt das Seil fast ab, wodurch aber der Sturz soweit abgebremst wurde, dass die übrigen schlechtsitzenden Haken hielten. Was für ein Glück! Mittlerweile hatte sich das Wetter verschlechtert, ein kalter Wind kommt auf und Nebelfetzen ziehen um die Kante. Es bleibt nur der Rückzug. Von dem Sturz doch ziemlich geschockt seilen sie im Regen ab. Obwohl sich die nassen Seile kaum abziehen lassen erreichen sie wohlbehalten den Einstieg „geschlagen, aber mit dem festen Entschluss wieder zu kommen“.

Erneuter Versuch

Zwei Wochen später wollten sie wieder zur Kante, da ereilt sie eine traurige Nachricht. Traunsteiner Kletterer waren einige Tage nach ihnen in die Wand eingestiegen. Einer stürzte 30 Meter in die Tiefe. Zwar hielt das Seil, der Kletterer mit Namen Mayer, den Hinterstoißer gut kannte, überlebte die Folgen jedoch nicht.

So verging den beiden erst einmal jegliche Lust auf die Kante und sie wandten sich einem anderen großen Ziel zu: der Nordwand der Großen Zinne („Comici“). Die Route im 6. Grad durch eine der begehrtesten Wände in den gesamten Dolomiten war erst 1933 vom legendären Emilio Comici und den Gebrüdern Dimai eröffnet worden. Im zweiten Anlauf gelingt den beiden die vierte Begehung. Comici, dem so viele schwerste Erstbegehungen gelangen, starb einige Jahre später (1940) als beim Abseilen im Klettergarten eine morsche Seilschlinge riss.

Im Folgejahr wenden sie sich erneut der Wartsteinkante zu, nachdem zahlreiche Versuche anderer Kletterer ausnahmslos gescheitert waren. Sogar zwei Helfer haben sie dabei, zum Materialtransport und um in der Wand evtl. Material aufseilen zu können. Dunkle Wolken ziehen auf, sie steigen aber trotzdem ein und kommen bis zum großen Überhang, wo Hinterstoißer im Jahr zuvor stürzte. Als starker Regen einsetzt seilen sie erneut ab. Die Kletterausrüstung hinterlegen sie in einer kleinen Höhle, bevor sie mit den ebenfalls völlig durchnässten Helfern ins Tal absteigen.

Eine Woche später sieht der Berg sie wieder. Um keine Zeit zu verlieren steigen sie bereits am Nachmittag auf und übernachten in einer Höhle in Einstiegsnähe. Die Helfer sind auch wieder dabei. Im Schein eines Lagerfeuers werden zünftige Bergsteigerlieder gesungen und Glühwein gekocht, voller Hoffnung, dass die Erstbegehung am nächsten Tag gelingen möge.

Der Erfolg

11. August 1935. Kühl bricht ein strahlender Tag an. Früh sind sie am Einstieg und klettern zum dritten Mal die Seillängen zur Umkehrstelle hinauf. Nach dreieinhalb Stunden stehen sie erneut unter dem Überhang, dem Fragezeichen der Tour. Am Stand werden erst einmal Holzkeile und Schlafsäcke nach oben gezogen, die die Helfer am Einstieg unten an einer Reepschnur befestigt hatten. Dann ist Hinterstoißer mit der Führung dran. Über dem letzten Haken schlägt er einen Holzkeil in den breiten Riss und zwischen Fels und Holz einen Mauerhaken. So kommt er höher. Weitere Holzkeile und Haken sind nötig, dann liegt der Überhang unter ihm. Weiter oben ein Standplatz, aber dahin muss er erst noch kommen. Die Seile laufen durch mehrere Karabiner und lassen sich kaum nachziehen.

Schließlich kommt er zum Stand über der heute als „Holzkeilriss“ bezeichneten Schlüsselstelle. Das Schwerste ist erst einmal geschafft, aber noch liegen zwei Drittel der Wand über ihnen.

Im Nachstieg schlägt Kurz die meisten Haken wieder heraus, manche kann er mit der Hand herausziehen. Erst Stunden später sind sie wieder vereint.

Weiter geht’s. Rechts der Kante erreichen sie ein schmales Latschenband in der Sonne.

Senkrechte bis überhängende Risse in bestem Fels ermöglichen den Weiterweg. Schließlich, ein gutes Stück oberhalb ist die Zeit fortgeschritten und sie beschließen auf einer Kanzel die Nacht zu verbringen. Endlich gibt’s die wohlverdiente Brotzeit. Anderl schürt mit den verbliebenen Holzkeilen ein kleines Feuerchen während Toni auf der Mundharmonika spielt, bevor sie sich, an Haken festgebunden, in luftiger Höhe in die Schlafsäcke verkriechen.

Der nächste Tag. Ein Rechtsquergang führt zum steilen Ausstiegsriss. Toni ist mit der Führung dran, „in dem aalglatten und herausdrängenden Riss arbeitet er sich mit Hilfe von Keilen hinauf“, langsam aber stetig kommt er höher. Zum Glück wurden nicht alle Holzkeile verheizt ansonsten diese Seillänge kaum zu schaffen gewesen wäre. Endlich zum letzten Mal der Ruf „Nachkommen“. Danach weist die Wand keine nennenswerten Schwierigkeiten mehr auf. Anderl betritt als erster den Gipfel. „Eine Serie von Jodlern tönt in die Bergwelt hinaus, dann drücken sich zwei gute Kameraden die Hände“. Stumm sitzen sie dann auf den Seilen am Gipfel „vom Glück berauscht von diesen unvergesslichen Minuten“. Beim Abstieg über den Schrecksattelweg müssen sie immer wieder zur Kante hinaufschauen und können es kaum glauben, einen Weg durch diese abweisenden Wände gefunden zu haben.

Klettern damals

Der Bericht des Anderl Hinterstoißer zeigt auf, welche Eigenschaften – damals noch viel mehr als heute – bezeichnend für das extreme Klettern sind: Hohes Risiko für Leib und Leben, übergroße Strapazen, die kein Mensch in Zusammenhang mit einer Erwerbstätigkeit auf sich nehmen würde und eine regelrechte Besessenheit, mit der die Akteure ihren Sport betreiben.

Sicherungsgeräte gab es noch lange nicht. Gesichert wurde über die Schulter oder die Hüfte, wobei das Seil um den Körper herumgeführt wurde und mögliche Stürze durch Seilreibung abgebremst wurden. Wenn Stürze so überhaupt gehalten werden konnten, war das äußerst schmerzhaft und ging stets mit Verbrennungen an den Händen und am Rücken einher.

Moderne Kletterseile aus Perlon bzw. Polyamid kamen erst in den 50er Jahren auf. Die vorher verwendeten Hanfseile wurden bei Nässe schwer und steif. Nasse Hanfseile trockneten nur äußerlich, innen hielt sich die Feuchtigkeit und die Seile faulten von innen. Seilrisse waren nicht selten und führten zu zahlreichen tödlichen Unfällen. Belastungen über 400 kg dürften Hanfseile grundsätzlich kaum standgehalten haben. Gleiches gilt für die damaligen Eisenkarabiner. Bei einem Eigengewicht von 130 g wurden sie bei relativ geringer Belastung aufgebogen. Heutige Karabiner wiegen 30 Gramm und halten Belastungen von über 2000 kN stand. Man könnte also problemlos einen Mittelklassewagen daran aufhängen.

Die Wartsteinkante heute

Die Kante ist heute ein Klassiker unter den extremen Klettereien in den Berchtesgadener Bergen. Der Zeitaufwand für die 200 Meter Wandhöhe wird in der aktuellen Führerliteratur mit 2-3 Stunden angegeben, der Schwierigkeitsgrad mit VI (Schlüsselstelle), sonst V bis VI-.

Holzkeile finden sich keine mehr im Holzkeilriss, dafür eingebohrte Haken, die ein erhebliches Plus an Sicherheit bedeuten.

Das Jahr 1936

Das Jahr darauf begann für die beiden mit zwei großen Erstbegehungen. Im Mai 1936 gelang ihnen die Pfeilersüdwand am Untersberg und am 7./8. Juli 1936 noch ihr Meisterstück, die „direkte Mühlsturzkante“. Zwei Wochen später sollte ihr Leben schon zu Ende sein.

Unmittelbar nach dem Erfolg am Mühlsturzhorn verließen sie mehr oder weniger widerrechtlich die Reichenhaller Kaserne, wo sie bei den Gebirgsjägern stationiert waren.

Ihr Ziel: Die berüchtigte Eiger-Nordwand. Am 18. 7. 1936 stiegen sie mit den Österreichern Willi Angerer und Edi Rainer in die Wand ein. Nachdem sie ziemlich schnell die halbe Wandhöhe erreicht hatten, zwang am 20. 7. ein Wettersturz zur Umkehr. Der Rückzug gelang reibungslos bis zum heute als Hinterstoißer-Quergang bekannten Seilquergang, über den sie als erste einen idealen Zustieg zum ersten Eisfeld gefunden hatten. Das Quergangsseil hatten sie abgezogen, Zurückklettern war nicht möglich. Das Abseilen in unbekanntes Gelände geriet zur Katastrophe. Keiner erreichte lebend den Wandfuß. Besonders tragisch war der Tod von Toni Kurz. Mit letzten Kräften hatte er mit den Zähnen ein Hanfseil aufgedröselt, woran die aus dem Tunnelfenster der Jungfraubahn ausgestiegenen Retter ein weiteres Seil gebunden hatten. Kurz konnte sich weiter abseilen, bis schließlich – wenige Meter oberhalb der Rettungsmannschaft – der Seilknoten im Karabiner seines Abseilsitzes hängenblieb und er nicht mehr die Kraft hatte, den Knoten durchzudrücken. So starb Toni Kurz als letzter der vier am 23.7.1936. Er wurde 23 Jahre alt. Anderl Hinterstoißer, 22 Jahre alt, starb am Vortag in der Wand. Seit 1948 wird vom Skiclub Bad Reichenhall auf der Reiteralm der Anderl Hinterstoißer-Gedächtnislauf abgehalten, zu Ehren des hervorragenden Reichenhaller Kletterers, der so jung am Berg sein Leben verlor.

 

Literatur

Alpenvereinsführer Berchtesgadener Alpen.

Bergverlag Rudolf Rother, Ausgabe 1994

Hinterstoißer Anderl: Originaltyposkript „die Wartsteinkante“ (1935) *

Hirschbichler Albert:

Geschichte des Kletterns in den Berchtesgadener Alpen.

Heimatblätter des Reichenhaller Tagblatts vom 23.2.2013 (Teil 1)

sowie Ostern 2013 (Teil 2)

Hofmann Fritz: Die Reiteralpe (2005)

Ringlstätter Sepp (2003):

Geschichte des Hinterstoißer-Laufes.

https://www.sk-bad-reichenhall.de

abgerufen am 11.1.2022

* Frau Ingrid Kern Dank für die Überlassung des Typoskripts 

 

Bilder

1   Die Nordwestabstürze der Reiteralm über Jettenberg vom Alphorn bis zur Wartsteinkante. Westlich vom Schrecksattel liegt der Große Weitschartenkopf. 

     Dahinter die Reiter Steinberge mit Stadelhorn, Wagendrischelhorn und Häuslhorn, im Hintergrund Watzmann (links) und Hochkalter.

2   Steiler Fels. In der ersten Seillänge der Wartsteinkante  (Foto Max Walch). 

3   Kontur der Wartsteinkante vom Saalachsee aus.

 

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