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Der Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses (4208 m)

(Begehung 1994)

Der von Cassin und Gefährten 1938 erstmals begangene Pfeiler stellt die ideale Linie durch die eindrucksvolle Nordwand der 4208 Meter hohen Grandes Jorasses dar. Auch heute noch gehört die Route zu den großen klassischen Unternehmungen in den Alpen.

August 1994 – es ist soweit. Im ganzen Alpenraum herrscht seit Tagen eine stabile Hochdrucklage. Ein Telefonat von Fritz mit der Argentierehütte ergibt: bestes Wetter und gute Verhältnisse in allen Höhenlagen! Also nichts wie los!

Kurzfristig Urlaub zu bekommen war damals noch gut möglich. Heute müsste man das mindestens drei Wochen vorher beantragen. Das Arbeitsleben wird von Jahr zu Jahr unmenschlicher, das steht fest. Nach der langen Anreise und Auffahrt mit der Zahnradbahn nach Montenvers erreichen wir trotz gemütlichen Tempos nach drei Stunden die Leschauxhütte, eine von einem Felsüberhang geschützte Blechbehausung. Lange betrachten wir durch ein Fernglas die gewaltige Nordwand der Grandes Jorasses mit den drei markanten Pfeilern und den schauerlichen Eiscolouirs dazwischen.

Nach einer angenehmen Nacht frühstücken wir unter sternklarem Himmel vor der Hütte. Noch im Finsteren brechen wir auf und stolpern über den Gletscher in Richtung Einstieg, den wir ideal nach Umgehung des Bergschrunds von rechts her erreichen. Normalerweise bricht hier wohl erst einmal Hektik aus, wenn sich drei bis fünf Seilschaften eine gute Startposition sichern wollen. Wir können kaum glauben, dass wir ganz allein hier stehen bei dem Wetter.

Die ersten Seillängen sind leicht, doch ist der Fels von einer rätselhaften Sandauflage bedeckt, die Griffe und Tritte gleichmäßig bedeckt. Zudem geraten wir zusehends in den Beschuss kleiner Steinchen und Eisstücke, die von der Morgensonne gelöst, aus großer Höhe herab fallen. In den verschiedensten Tonarten pfeifen oder brummen sie durch die Luft, bevor sie auf den geneigteren Einstiegsfelsen aufschlagen. Keiner trifft und bald wird auch das Gelände steiler, sodass wir diese Sorge los sind.

Glücklicherweise ist an der ersten schweren Stelle, dem Rebuffat-Riss, Fritz mit der Führung dran. Auch hier die merkwürdige Sandauflage, von der er sich aber nicht aufhalten lässt. Am Standplatz oberhalb essen wir zur Erinnerung an das Biwak vor einem Jahr hier einen Müsliriegel.

Die anschließende Querung erweist sich, anders als im Vorjahr, eisfrei. Hier hört endlich auch der dumme Sand auf und das Klettern in der Sonne wird zum Genuss. Auch die 75 Meter Verschneidung ist trocken und wird ohne besondere Vorkommnisse durchstiegen. Zwei Seillängen oberhalb erwartet uns die markante Passage des Pendelquergangs. Von einem Haken muss man sich über eine Platte schräg nach rechts abseilen, bis man wieder in kletterbares Gelände gelangt. Sachlich stellen wir fest, dass nach Abziehen des Seiles ein Rückzug sehr kompliziert, wenn überhaupt möglich wäre. Das strahlend schöne Wetter gibt für derlei Bedenken aber keinerlei Anlass.

Am Crozpfeiler gegenüber klettert auf gleicher Höhe eine Seilschaft. Vom Standplatz aus hat man Gelegenheit, die Verlorenheit der winzigen Pünktchen in dieser riesigen Wandflucht zu betrachten. Aber auch sie kommen stetig höher. Ich wundere mich über das Gefühl tiefer Gelassenheit, das ich in mir vorfinde. Die Umgebung ist eigentlich nicht danach. Ohne jede Hektik oder Nervosität bringen wir in abwechselnder Führung eine Seillänge nach der anderen hinter uns. Klettern am Walkerpfeiler – mir fällt ein Sinnspruch aus einem veralteten Bergsteigerbuch ein. „Ich gehe nirgendwohin, ich bin nur unterwegs, ich pilgere...“ So was machen wir hier auch. Eine Pilgerfahrt über den Walkerpfeiler:

Wir klettern in einer großen Route, in einer großartigen Umgebung, ganz allein, entspannt, bei bestem Wetter, mit genug Ausrüstung für das geplante Biwak. Was will man mehr!

Einige Seillängen oberhalb erwartet uns eine weitere Schlüsselstelle, die „Grauen Platten“. „Mauerglatt ist hier der Fels, ohne Griffe und Tritte und doch muss man hinauf...“ liest man in der klassischen alpinen Literatur. Ganz so schlimm ist es zum Glück nicht, aber die Kletterei ist alles andere als einfach.

Und so geht es weiter.

Die folgenden Seillängen bis zum „Quarzband“, einer kleinen Höhle mit vielen Bergkristallen, sind durchwegs steil und ausgesetzt. Etwas oberhalb finden wir am Kopf des „Grauen Turmes“ einen balkonartigen Vorsprung, der von einem Überhang geschützt ist.

Es wäre zwar noch Zeit zum Weiterklettern, die folgende Gratkante des „Eselsrücken“ verspricht jedoch acht Seillängen weit keine geschützten Biwakplätze. Außerdem brauchen wir Schnee zum Schmelzen, der ganz in der Nähe reichlich vorhanden ist.

So beschließen wir, hier die Nacht zu verbringen. Unheimlich luftig ist unser Aufenthaltsort, ein schmales Band zum Sitzen über einem schauerlichen Abgrund, mit Tiefblick auf das Eisfeld des „Linceul“, zu deutsch Leichentuch. Wir bauen ein Seilgeländer, sortieren die Ausrüstung, kochen Tee, zum Abendessen gibt’s ein „Travel-Lunch“. Bis zum Sonnenuntergang sitzen wir dann recht behaglich auf unserem Balkon und genießen den Ausblick und die Abendstimmung.

Kaum ist die Sonne weg wird es gleich empfindlich kalt und wir richten uns für die Nacht her. Fritz verkriecht sich in seinem neuen Leichtschlafsack, ich lege meine alte Daunenjacke und Überhose an. Da das Band für zwei Personen zum Liegen zu schmal ist, verbringe ich die Nacht auf einem Absatz zwei Meter tiefer. Biwak am Walkerpfeiler, unterm Sternenhimmel, daheim im warmen Bett ein schöner Gedanke. In der Wirklichkeit ist es viel kälter und weniger vergnüglich. Leider bemerke ich erst am Morgen, dass die lange Unterhose hinauf, die Socken hinunter verrutscht waren. Die Folge sollte ein mehrwöchig pelziges Gefühl in den Zehen, besonders den großen, sein, das aber einmal mehr durch die Selbstheilungskräfte der Natur überwunden werden konnte, ohne dass der Heilungsprozess durch ärztliches Eingreifen gestört worden wäre.

Die erste Morgensonne bringt sogleich angenehme Temperaturen. Noch im Finsteren war vom Einstieg herauf ein Durcheinander von Geschrei und Steinepoltern zu hören. Zum Glück sitzen wir schon hier heroben, brauchen nicht mit anderen um die Wette loszuklettern sondern nehmen in der warmen Morgensonne erst einmal ein Frühstück ein.

Die nächsten Seillängen über die plattige Gratkante des „Eselsrückens“ sind nicht schwer, die Standplätze gut. Während Fritz klettert, schaue ich unseren Kollegen am Crozpfeiler zu. Sie haben in ziemlich gleicher Höhe wie wir biwakiert und der erste befindet sich gerade 30 Meter über dem Stand. Auf einmal ein Schrei und ich sehe einen nicht enden wollenden Flug, der erst nach 40 Metern vom Seil gehalten wird. Sekunden später der Aufschlag des ausgebrochenen Blockes auf den Einstiegsschrofen. Der Gestürzte ist offenbar verletzt, kann aber aus eigener Kraft seinen Gefährten am Standplatz erreichen. Später erfahren wir, dass ein Bergführer in der Nähe die Hilferufe gehört und über Funkgerät den Helikopter verständigt hatte. Nach weniger als einer Stunde kommt der auch schon mit einem Retter am langen Seil unten dran daher. Die Windenbergung geht in kürzester Zeit über die Bühne. Eindrucksvoll. Eine ernste Verletzung in 2/3 Wandhöhe der Grandes Jorasses Nordwand hätte früher das Todesurteil bedeutet.

Kaum ist die Bergung vorbei löst sich im Colouir rechts von uns genau in unserem Blickfeld eine große Steinlawine. Tonnen Fels stürzen mit donnerartigem Getöse in Richtung Wandfuß, wo die meisten Felsbrocken in der ersten großen Querspalte verschwinden. Nicht wenige aber kollern weiter über die Schneehänge, über die wir tags zuvor in Richtung Einstieg marschiert waren. Wir nehmen es sachlich zur Kenntnis. Die Steine gingen genau dort ab, wo die berühmte „Colton McIntyre“ verläuft, die sich bei den ganz Extremen zunehmender Beliebtheit erfreut.

Die Illusion der Unverletzbarkeit. Wäre extremes Bergsteigen ohne entsprechende Verdrängungsmechanismen überhaupt möglich? Nein. Was treibt man da überhaupt? Man setzt sich Strapazen, Abgründen und Gefahren aus, für die – obwohl Affennachfahre – niemand weniger geschaffen ist als der Mensch. Schleppt schwere Ausrüstung mit sich, dass nichts passiert. Wozu? Unzulängliche Versuche, das zu erklären, gibt es schon genug. Darum Schluss damit! Schön ist es ja doch immer wieder, wenn man oben ist und der Schmerz nachlässt.

Wir erreichen ein dreieckiges Firnfeld. Fritz legt die Steigeisen an, es ist nicht weit zu den Felsen oberhalb. Ich hangle mich der Einfachkeit halber am Seil hoch und klettere gleich weiter zum Beginn des „Roten Kamins“, den, vereist und brüchig, wieder Fritz führt. Eine steile Platte und ein nasses Wandl noch, dann stehen wir am Kopf des „Roten Turmes“, am Ende der Schwierigkeiten.

Vom Gipfel trennt uns nur noch ein 200 Meter hoher Blockgrat im dritten Schwierigkeitsgrad. Der macht keine Probleme mehr. Nebel umwabern uns, als wir die letzten Seillängen zum Ausstieg unmittelbar neben dem höchsten Punkt der Pointe Walker hinter uns bringen. Oben scheint wieder die Sonne, aber es will sich keine rechte Euphorie einstellen. Wir sind eigentlich nur froh, nach 56 Seillängen endlich nicht mehr klettern müssen. Wir halten uns nicht lange auf. Ein langer und nicht einfacher Abstieg wartet. Nach einer kurzen Pause stapfen wir die aufgeweichten Firnhänge des Normalanstiegs hinunter. Über den Felsen der Whymper-Rippe zieht es zu und es fängt heftig zu graupeln an. Als es nach einer Stunde wieder aufhört, ist alles weiß überzuckert. So seilen wir über die Felsen ab und kommen 100 Meter tiefer wieder auf den Gletscher.

Anstatt dem Normalanstieg folgend nach rechts auf eine Felsrippe zu queren, führen Spuren gerade über den steilen Gletscher hinab. Nach einigen Überlegungen des Für und Wider folgen wir ihnen und kommen rasch tiefer, bis eine riesige Querspalte unserem kurzweiligen Rutschen Einhalt gebietet. Ganz rechts am Rand der den Gletscher begrenzenden Felsen können wir uns an einem steilen Schneehang an der Spalte vorbeimogeln, wie zwei Ameisen über einem Briefkastenschlitz. Bald darauf wird der Gletscher flacher und im Laufschritt erreichen wir sein Ende und bald darauf die Boccalatehütte.

Auf der Hütte sind wenig Gäste und der Wirt ist froh, in uns Abnehmer für zwei Riesenportionen Spaghetti und eine nicht unerhebliche Menge roten Weins gefunden zu haben. Am nächsten Morgen steigen wir ins Val Ferret ab. Eine große Tour ist wieder mal zu Ende.


Bilder

1 Unterwegs zum Walkerpfeiler

2 Quergang im unteren Wanddrittel

3 75 Meter Verschneidung

4 Tiefblick zum Leschauxgletscher

5 Luftiger Balkon als Biwakplatz

6 Morgensonne nach kühler Nacht

7 Auf dem "Eselsrücken" kommt man gut voran

8 Geschafft! Am Gipfel der Pointe Walker.

links im Bild: Als wir oben waren, kam plötzlich noch ein junger Bursche daher,

der war den Pfeiler solo geklettert. Was es alles gibt!

9 Unten im Val Ferret. Das erste Bier. 

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