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Übernachtung in St. Daniele

Kurzurlaub. Freitag, drei Uhr Nachmittag, fahren wir los, Andrea und ich. Auf der Fahrt keine Zwischenfälle. Nach vier Stunden kommen wir nach St. Daniele, Friaul. Wir beziehen Quartier. Eine unscheinbare Herberge. Im Zimmer deutlicher Geruch von Mottenkugeln. Die Betten durchgelegen. Die sanitären Einrichtungen genügend, gerade noch. Das Essen aber ist hervorragend. Was gleich auffällt: In der Gaststube hunderte von Weinflaschen. In Regalen und Stellagen an der Wand, überall Weinflaschen, alle noch voll. Außerdem: Riesige Trümmer St. Daniele Schinken hängen an den Wänden. Ganze Lenden von Schweinen. Neben unserem Tisch eine Art Theke. Hinter Glas: St Daniele Schinken in Dosen, kleinere Mengen. St. Daniele Schinken in luftdicht verpackter Folie, pfundweise - und Weinflaschen.

Am Morgen. Wir stehen spät auf. Unten in der Gaststube ist niemand. Seltsam. Wir warten. Niemand kommt. Mir fällt auf: Gestern auf der Straße vor unserem Quartier: Bis spät in die Nacht jede Menge Verkehr. Heute fährt kein einziges Auto. Andrea versucht die Tür ins Freie zu öffnen: Zugesperrt. Sie versucht ein Fenster zu öffnen. Keins geht auf. Wir schalten den Fernseher ein: Nur schwarzes Rauschen.

Irgendwas stimmt hier nicht. Den ganzen Tag kommt niemand. Auch am nächsten Tag nicht, am übernächsten auch nicht.

Wir wissen nicht was geschehen ist. Wir sind gefangen. Wir haben keine Wahl. Die einzigen Lebewesen weit und breit. Nun gut. Der Schinken, der Wein.. Einige Zeit können wir es hier schon aushalten.

Zwei Monate ernähren wir uns ausschließlich von Wein und St. Daniele Schinken. Wir reden nicht viel, streiten aber auch nicht. Gegen Ende des zweiten Monats merke ich, wie ich den rechten großen Zeh ganz leicht bewegen kann. Einige Tage später den linken. Seltsam. Auf einmal merke ich auch, daß ich kalte Füße habe. Und schließlich eines Morgends: Ich träume schlecht, einen jener Träume, die mich seit der Kindheit nicht mehr losgelassen haben: Etwas Bedrohliches verfolgt mich. Es kommt immer näher. Ich kann nicht richtig laufen. Bin irgendwie wie gelähmt. Kann mich nur in Zeitlupe bewegen. Beinahe hat es mich erreicht. Ich schreie auf und springe aus dem Bett. Als ich richtig zu mir komme, stehe ich neben dem Bett. Ich stehe und falle nicht um! Vorsichtig probiere ich einen Schritt. Das gibt´s doch nicht! Es geht. Andrea ist auch aufgewacht. Schaut mich ungläubig an. Ich gehe. Wackelig, aber ohne mich irgendwo festzuhalten. Wäre beinahe über meine Krücken gestolpert, die am Boden liegen... Ich kann es nicht glauben. Befürchte, daß es bloß ein Traum ist. Gehe nicht mehr ins Bett, sondern im Zimmer hin und her bis es hell wird. Was ich noch feststelle, ohne es zu sagen: Bei dem hin und her Gehen kam nebenbei das Geschlechtsleben wieder in Schwung. Zunächst kaum merklich, bald deutlich, um nicht zu sagen aufdringlich.

Ich sage Andrea nichts davon. Davon war schließlich nicht die Rede, als wir losgefahren waren, zwei Monate zuvor.

Wochen vergehen. Es wird Frühling. Irgendwann murmle ich beiläufig einen Spruch, den ich schon in der Pubertätszeit lustig fand, vor mich hin:

»Im Frühjahr blüht der Seidelbast - den Knaben platzt der Beidel fast...«

Auf keinen Fall wollte ich dass sie das hören soll, aber sie hat verstanden und hat ein Einsehen.

Ab da leben wir in einer eheähnlichen Beziehung.

Wir ernähren uns weiter von St. Daniele Schinken und Wein.

Bei Andrea setzt die Regel aus.

Das auch noch.

Neun Monate später. Die Weinvorräte haben sich bedenklich gelichtet, der Schinken ebenso.

Andrea bekommt Vierlinge.

Wie soll das alles weitergehen?

Da wir nichts anderes haben füttern wir die Vierlinge mit Wein und Schinken. Andrea ist skeptisch aber die Kinder entwickeln sich prächtig, essen von Tag zu Tag mehr. Die Vorräte werden nicht mehr lange halten. Dafür braucht es wenig Phantasie. Was dann?

Irgendwann in einer der folgenden Nächte: Ich höre ein Auto vorbeifahren. Gleich darauf noch eins und noch eins und einen Lastwagen. Andrea probiert am Fenster: Es läßt sich problemlos öffnen.

Draußen gröhlt ein Betrunkener. Der erste Mensch.

Auch der Fernseher funktioniert wieder. Am Morgen. Wir kommen in die Wirtsstube. Die Polizei ist da. Einbrecher, sagt man uns, hätten fast die gesamten Wein- und Schinkenvorräte mitgehen lassen. Ob wir etwas gehört hätten? Ich schaue Andrea an. Sie versteht.

Wir sagen nichts.

Wir zahlen eine Übernachtung mit Frühstück. Dann fahren wir nach Hause.

Ich setze Andrea ab und die Vierlinge. Aber was ist da los? Bei ihr daheim öffnet ein älterer graumelierter Herr: Max. Seit zwei Jahren in Pension.

Ich kenne mich überhaupt nicht mehr aus und denk mir, ich fahr´ erst einmal zur Marianne.

Zuvor schau ich noch bei Fritz vorbei. Will ihm ein Stück St. Daniele Schinken vorbeibringen und eine Flasche Wein dazu. Auch Fritz ist älter geworden. Wollte gerade mit Tina in die Dolomiten fahren. Zum Klettersteig-Gehen. Bernhard ist auch da. Schaut immer noch gut aus, bis auf die Glatze. Erst sieht es so aus, als ob sie mich nicht erkennen würden. Als Fußgänger. Nach einiger Zeit erst kapieren sie was los ist. Ich erfahre: 23 Jahre sind vergangen seit unserer Abreise. Andrea und ich wollten nur mal kurz übers Wochenende nach Italien fahren. Niemand kam zurück. Beide blieben spurlos verschwunden. Alle Nachforschungen, auch über Interpol, blieben ergebnislos. Auch das Auto und der Rollstuhl wie vom Erdboden verschluckt. Nach Wochen wurde in der Nähe des Gardasees eine Krücke gefunden. Eine heiße Spur, dachte man. Nach monatelangen Ermittlungen stand jedoch fest: Die Krücke gehörte einem anderen, der sie weggeworfen hatte, als sein verstauchtes Bein wieder heil war. Man schloss ein Gewaltverbrechen nicht aus. Die Mafia? Oder...? Behinderte sind manchmal unberechenbar! Verheiratete Frauen auch.

Wo die Kinder sind, frage ich. Lena sei Lehrerin geworden. Lisi Geschäftsführerin eines Geschäfts für Hochzeitsmoden. Eva Stuntgirl. Habe gerade einen Vertrag mit Steven Spielberg in Hollywood abgeschlossen, berichtet Gabi nicht ohne Stolz.

Ich komme zur Weißbachstraße. Marianne kommt gerade vom Dötzenkopf heim. Auch sie hat mit meinem Erscheinen nicht mehr gerechnet. Die Kinder sind aus dem Haus. Stefan Politologe, ein hohes Tier bei der Bundeswehr. Christof Berufssnowboardfahrer. Nebenverdienste aus einem Geschäft für Krampusausrüstung.

Alles hat sich verändert. Kinder sind erwachsen, Erwachsene sind alt geworden.

Nur ich bin gleichgeblieben. Bin nicht gealtert, sehe aus wie früher, denke wie früher,

benehme mich wie früher.

Sie meint, ich solle mich auf jeden Fall einmal medizinisch untersuchen lassen.

Der Doktor stellt fest: Leberwerte leicht erhöht, ansonsten alles in Ordnung. Kein Befund.

Am Nachmittag geh´ ich erst einmal die Goldtropf. Höchste Zeit wieder einmal! Aber was muß ich dort oben sehen? Beim Wandbuch: Ein Gedenktaferl mit Andrea´s und meinem Namen, darunter: „verschollen in Italien“... Um weiteres Aufsehen zu vermeiden, bitten wir die Freunde um Diskretion. Wir selbst erzählen niemand mehr von unserem Erlebnis.

Ich gehe dann noch öfters mit Andrea die Goldtropfwand, die Vierlinge in der Kraxe.

Ein anderer Bergsteiger, der zur Verrichtung eines größeren Geschäftes nah am Weg in den Latschen hockte, hörte einmal, wie sich Vorübergehende, der Mann trug Vierlinge, über die neuesten Forschungen über sogenannte Zeit-Löcher unterhielten. Er verstand nichts davon, glaubte auch nicht daran, brachte sein Geschäft zu Ende und hielt die beiden für harmlose Spinner. „Die armen Kinder“ dachte er, „so verrückte Eltern...“

Einige Tage später las er, wieder am Klo, in der Zeitung von der Eröffnung einer Reha-Klinik für Querschnittgelähmte in Oberjettenberg. Die Therapie bestand aus täglich mehrstündigen Betrachtungen der wunderbaren Reiteralm Nordwände sowie einer ausschließlichen Verköstigung der Gelähmten mit St. Daniele Schinken und Rotwein aus Friaul. Nach ersten Ergebnissen konnten 95% der Patienten nach acht Wochen als geheilt entlassen werden.

Die Fachleute standen vor einem Rätsel...

»Was es alles gibt...« dachte er sich, las den Artikel aber nicht zu Ende, denn es roch fürchterlich.


                                                                                                                                                                     A.H. 11/1999

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