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Die Matterhorn-Nordwand im Winter

(Januar 1997)

Eine schöne Kletterei ist bekanntermaßen nicht geboten in der Nordwand des Matterhorn. Fritz glaubt dennoch, hinzumüssen. Da die brüchigen Schotterfelsen, aus denen die Wand vorwiegend besteht, zusammengefrorenerweise besser halten, ist der Winter durchaus die geeignete Jahreszeit für dieses Ziel. Auch die Steinschlaggefahr reduziert sich dann auf ein Mindestmaß. Meine grundsätzlichen Bedenken halfen mir gar nichts. Eine Kletterpartnerschaft ist ein bißchen wie verheiratet sein. Oft oder zumindest hin und wieder macht man dem anderen zuliebe etwas, wozu man selber eigentlich gar keinen Bock hat.

15. Januar 1997: eigentlich war der Aufbruch zwei Wochen später geplant. Die momentane Schönwetterperiode und die angeblich guten Verhältnisse machen einen raschen Aufbruch notwendig, dieses mal zu dritt. Robert Weizbauer, der dritte Mann, hat den interessanten Beruf eines Diplom-Brauingenieurs. Als Entgelt für eine geplante Übernachtung bei Schweizer Bekannten wurden drei Kasten Weißbier im Kofferraum verstaut, die auf der Anreise Durstgefühle gar nicht erst aufkommen ließen. Weißbier scheint in der Schweiz so schwierig erhaltbar und teuer zu sein wie bei uns Krimsekt. Zur Demonstration seiner Kälteunempfindlichkeit trägt Robert, im folgenden Weizi genannt, auf der ganzen Anreise lediglich ein T-Shirt. Am Abend kommen wir in dem Dorf 30 Autominuten vor Zermatt an, in dem die Siegsdorfer Sportlerin Claudia von Amors Pfeilen getroffen ein neues Zuhause gefunden hatte. Das Dorf, eigentlich bloß ein paar Häuser an einem steilen Hang einige hundert Meter über dem Matter Tal, bietet einen herrlichen Tiefblick auf das tiefeingeschnittene Tal und die gegenüberliegenden Berge. Von ihr und ihrem Mann Albon werden wir auf das freundlichste empfangen und bewirtet.

Am nächsten Tag um 8 Uhr mit der ersten Bahn zum Schwarzsee beginnt unser Abenteuer. Von der Bergstation steigen wir erst einmal mit Fellen (der Lift ist noch nicht in Betrieb) über die Skipiste in Richtung Hörnlihütte. An der Wegabzweigung zur Hütte lassen wir die Skier zurück, es führt noch keine Spur. Unerwartet viel lockerer Pulverschnee liegt, in den oberen steilen Hängen und Rinnen eingeweht und mindestens knietief. Matt erreichen wir am späten Vormittag die verlassene Hütte.

Da mit einem Biwak in der Wand auf jeden Fall zu rechnen ist, entschließen wir uns, am selben Tag noch einzusteigen. Am zweiten Tag wollten wir eigentlich oben sein… Nach einer kurzen Brotzeit machen wir uns wieder auf den Weg.

Zum Einstieg hinüber wieder knietiefer Pulverschnee, nur langsam kommen wir voran. Nach 14 Uhr ist es schon, als wir endlich unter dem Einstiegseisfeld stehen. Wir legen die Gurte an, hängen uns die Ausrüstung um und gehen gleich los. Über die Randkluft sichern wir, gleich danach endet die Schneeauflage. Die Eisverhältnisse sind hervorragend, die Frontalzacken der Eisen und die Geräte greifen optimal. Seilfrei steigen wir einer hinter dem anderen über die wohl 50 Grad steile Flanke hinauf. Hin und wieder wird eine kleine Stufe ins Eis gehackt, um die zunehmend verkrampften Wadeln zu entlasten. Robert, der als Mann des achten Grades den einarmigen Klimmzug beherrscht, hat mit den Waden interessanterweise die größten Probleme.

Kurz unter dem Ende des Eisfeldes wird es Zeit, nach einem Biwakplatz Ausschau zu halten. Etwa 80 Meter weiter rechts befindet sich ein kleiner Sporn mit einer Schneewächte. Da sonst weit und breit nichts vernünftiges in Sicht ist, beschließen wir, dorthin zu queren. Ein nervenzermürbender, zum Schluß leicht fallender Quergang in nicht immer gutem Eis erwartet uns. Es dämmert bereits, als wir endlich bei dem Sporn ankommen. Dieser trägt einen mehrere Meter hohen, ganz schmalen Schneegrat, der auf der einen Seite als Wächte überhängt. Das ganze ist bei weitem nicht so geräumig wie erwartet, aber immer noch besser als die steilen Eisflanken ringsherum. Bis in die finstere Nacht hinein hacken wir herum bis endlich drei einigermaßene Sitzplätze fertig sind. Starker Wind, der aufgekommen ist, verhindert Fritzens Versuche, den Gaskocher in Gang zu bringen. Wir verkriechen uns in den Schlafsäcken, ziehen die Biwaksäcke darüber und dösen dann mehr schlecht als recht so dahin. Trotz sternklarer Nacht machen uns bis Mitternacht heftige Windböen mit Schneefegen zu schaffen. Auf dem schmalen Schneegrat sitzend ignoriere ich den Wind und ziehe mir jeweils nur den Biwaksack ganz fest über den Kopf, bis er sich wieder lockert, knattert, eine Öffnung freigibt, durch die die Kälte hereinkriecht. Das Innere des Sackes ist reifbedeckt. Trotz allem schlafe ich als Schlaftalent insgesamt gar nicht so schlecht.

Im Morgengrauen ist es windstill, dennoch verläßt keiner gern den warmen Schlafsack. Das Teekochen gelingt jetzt, zum Frühstück gibt es einen Müsliriegel, nebenbei Zusammenpacken mit größter Vorsicht; alles was man unachtsam aus den Händen gibt, verschwindet auf Nimmerwiedersehen. Seilgesichert queren wir zur Route zurück. Eine Seillänge oberhalb das Ende des Eisfeldes. Die günstigen Eisverhältnisse enden hier und das Gelände wird kombiniert, zum Teil überzieht dünnes Wassereis die Felsen. Nach zwei Seillängen in ekelhaftem Gelände, die Fritz souverän führt, gelangen wir zur Rampe, die laut Beschreibung über zehn Seillängen verfolgt wird. Zur Abwechslung führe ich auch einmal ein bißchen. Über weniger vereiste, lediglich pulverschneebedeckte Felsen geht es rechtshaltend weiter. Es steckt überraschend wenig, auch die Standplätze müssen durchweg selber eingerichtet werden. Eine Eigenart der Wand mit vorwiegend psychologischer Bedeutung: das Fehlen auch nur kleinster Absätze; eine haltlose Flanke aus festgefrorenem Schotter, Schnee und Eis, -was machen wir drei eigentlich hier?

Gegen Ende der Rampe werden die Schatten der umliegenden Berge schon wieder länger, wo ist nur die Zeit geblieben? Eine halbe Seillänge komme ich noch bis zu einem Haken. Oberhalb steilt sich das Gelände auf, dafür ist es heute bereits zu spät… Ich mache das Seil fest und lasse mich zum Standplatz zurück. Die Möglichkeiten zu biwakieren sind hier relativ günstig: ein abschüssiger Sitzplatz für eine Person bietet sich an, den ich beziehe. Die anderen beiden lassen sich 15 Meter am Seil hinunter auf einen weiteren Platz, auf dem man nebeneinander so recht und schlecht sitzen kann. Penibel hänge ich alle Ausrüstungsgegenstände in eine Seilschlinge. Nach längerem Gewurstle gelingt es mir endlich, den Schlafsack samt Biwaksack über die Ohren zu ziehen und auf meiner kleinen Sitzisomatte Platz zu nehmen. Die anderen unten kochen noch, ich schlafe lieber gleich so. Eine genau angepaßte Selbstsicherung hält mich in Sitzposition. Bedingungsloses Vertrauen in die Ausrüstung und die geschlagenen Standhaken. Zwei Möglichkeiten bestehen: Sitzen nach links gelehnt oder Sitzen nach rechts gelehnt, jeweils bis zum Nicht-Mehr-Auszuhalten und anschließendem Aufwachen. Dazwischen dösen und sogar schlafen, insgesamt wieder gar nicht so schlecht. Nebenbei stelle ich fest, daß sich die Angstgefühle und Beklemmungen, die mich schon auf der Anfahrt und bis zum Einstieg wie Gespenster verfolgt hatten, sich in irgendwelche unzugänglichen Bewußtseinsschichten zurückgezogen haben und mich eine gänzlich stoische Grundhaltung erfüllt hat. Das Wetter ist gut und ich zweifle nicht daran, daß wir mit den noch kommenden Schwierigkeiten fertigwerden.

Im Morgengrauen stehen wir auf, zusammenpacken und gleich weiter. Etwas oberhalb die schwierigste Seillänge im Fels, die Linie ist nicht ganz klar. Aus einem vereisten Spalt hängt ein altes Schnürl herunter, das mir gar nicht gefällt. Ich umgehe die Stelle, indem ich nach rechts quere, bis es über sehr steile Felsen wieder aufwärts geht. Es ist nötig, zum Klettern die Handschuhe auszuziehen. Auf einmal merke ich, wie Schnee an den zuvor noch ganz warmen Fingern anfriert. Bei nächster Gelegenheit ziehe ich sofort die Handschuhe an. Die Finger bleiben gefühllos, bis sich nach einiger Zeit mit beginnender Durchblutung das bekannte ”Nageln” einstellt; ganz schlecht ist mir dabei. Die kurze Zeit war ausreichend für leichte Erfrierungen der Fingerspitzen, die mich noch mehrere Wochen nach unserem Abenteuer beschäftigen sollten. Nach 50 Metern läßt sich an zwei geschlagenen Haken und einem ”Friend” ein sicherer Stand einrichten. Ich sehe den anderen beiden beim Nachklettern zu, dabei wird mir erst richtig bewußt, wie abweisend unsere Umgebung eigentlich ist…

Wegen der schon wieder fortgeschrittenen Zeit und dem einfach scheußlichen Gelände in Gipfelfallinie beschließen wir, uns nach links in Richtung der Schulter des Matterhorns zu halten. Eine mindestens 60 Grad steile Eisrinne mit einer anfänglichen Steilstufe zieht hinauf. Das Eis fast blau, ohne Strukturen, wie Fensterglas, wenig einladend. Das ist etwas für Fritz… Wirklich souverän hakt er mit den Geräten über den Steilaufschwung hinauf, setzt dabei einige Eisschrauben und bastelt am linken Rand der Rinne in den Felsen Stand. Über zwei etwas flachere Seillängen gelangen wir zum ersten bisherigen Standplatz in der Wand, auf dem man einigermaßen gemütlich stehen kann.

Die Rinne wird nun enger, ist nur noch im Grund vereist, links und rechts Fels; auf den ersten Blick sieht es gar nicht so übel aus, der kundige Blick ahnt jedoch bereits die erheblichen Widerwärtigkeiten. Fritz versucht eine Umgehung nach links, kommt aber bald zurück. Weizi geht die Rinne an, schlägt im Bröselfels einen Haken, seine Bewegungen sind aber irgendwie zaghaft, zu wenig entschlossen. Auch er kommt wieder herunter. Zuvor noch war ich heilfroh, daß Fritz die Führung übernommen hatte in der wirklich anspruchsvollen blanken Eisrinne; jetzt schaut er etwas müde aus; ich merke, daß es ihm reicht… Lange brauchen wir hier nicht mehr herumzuzaubern, sonst wird es noch einmal finster und wir hocken noch eine Nacht im Freien… Irgendwie habe ich auf einmal das Gefühl, daß sich meine übriggebliebenen Kräfte gesammelt haben und ich jetzt da hinauf muß. Ich bemerke, wie sich, wie schon öfters wenn es drauf ankam, ein Zustand einstellt, der ringsherum alles vergessen läßt und alle Aufmerksamkeit nur auf den nächsten Meter zu richten vermag. Es kommt dann zu einem durchaus feinen Gespür für die Grenzen, was noch geht und was nicht mehr, die Bewegungen kommen von innen heraus und die Möglichkeit eines Sturzes scheint mir wenig vorstellbar, eine entfernte Ähnlichkeit besteht vielleicht mit einem Schlafwandler am Dachgiebel…

Vom eher schlechten Haken, den Weizi geschlagen hat, geht es noch einige Meter über Eis in der steilen Rinne hinauf. Bevor eine Schneeauflage das Eis bedeckt, setze ich eine Schraube. Zur Hälfte drinnen steht sie leider schon am Fels an, nun ja, abgebunden wird sie schon etwas halten. Oberhalb bedeckt Pulverschnee das Blankeis, unangenehm weil die Geräte nicht mehr so halten und ich kein rechtes Gespür mehr für die Frontalzacken habe. Das Eis unter dem Schnee wird immer weniger und geht über in schlecht geschichteten Fels. Häufig sehe ich unter dem Schnee nicht, worauf ich eigentlich stehe. An reichlich zweifelhaften Haltepunkten stemme, spreize und schiebe ich mich hinauf, erst nach einigen Metern finde ich wieder eine Position, in der ich verspreizt einigermaßen stehen kann. Die Kletterei erfordert wirklich viel Gefühl. Bald darauf ist das Seil aus, nach längeren Bemühungen gelingt es mir endlich, drei Haken im splittrigen Fels unterzubringen. Das Ende dieser bescheuerten Rinne ist immer noch nicht in Sicht. Im gleichen Stil geht es weiter, im Rinnengrund Wassereis, daneben Fels, bei dessen Entstehung wohl niemand daran gedacht hatte, daß hier einmal Kletterer wie wir dringend etwas zum Festhalten bräuchten. Um Griffe und Tritte sichtbar zu machen, räume ich mit den Händen Schnee ab, den die anderen unten abbekommen. Kurz bevor die Schneeauflage so dick wird, daß sie trägt, fällt mir auch noch ein Eisbeil hinunter, jetzt reicht es aber langsam wirklich! Die letzten Meter in der Rinne hüfttiefer Schnee, steil bis zum letzten Meter, dann stehe ich endlich oben auf der Schulter des Hörnligrates. Bis die beiden Kameraden neben mir stehen, ist es schon wieder reichlich finster. Heilfroh sind wir, die Nordwand hinter uns zu haben.

Wir wissen, dass sich 300 Meter unterhalb die Solvay-Hütte befindet; diese gilt es heute noch unter allen Umständen zu erreichen; Die Ostseite des Berges liegt im Mondlicht; wir halten uns am Grat, seilen ab über Köpflschlingen, schlagen Haken, von denen wir nicht mehr viele besitzen, hin und wieder finden sich eingerichtete Abseilstellen vom Sommer. Fritz, der schon einmal hier war, führt den Abstieg. Seillänge für Seillänge gelangen wir tiefer, die Hütte kann doch nicht mehr weit sein! Weizi verliert noch einen seiner Handschuhe; außerdem klagt er über gefühllose und kalte Füße, unbemerkt war ihm etwas Schnee in die Schuhe gefallen, Die Hütte steht zwischen zwei Grattürmen, erst auf den letzten Metern ist sie zu sehen. Groß ist unsere Erleichterung!

Die Unterkunft ist nicht so komfortabel, wie man es in der Schweiz eigentlich erwarten möchte. Innen sieht es aus wie in einer Schneehöhle, überall hereingewehter Schnee, den wir erst einmal hinausschaufeln müssen. Zum Glück finden sich trockene Matratzen, Decken und sogar eine große Gasflasche mit einem Heizstrahler, der sogleich in Betrieb gesetzt wird. Als Weizi die Schuhe auszieht, sind die Socken innen gefroren, die Zehen zum Teil bläulich verfärbt. Bei Fritz sieht es nicht viel besser aus. Während die beiden anderen ihre Füße behandeln, koche ich unser letztes Travel-Lunch. Es dampft, als wir es zu dritt auslöffeln. Die Nacht ausgestreckt in den Schlafsäcken mit Decken darüber ist im Vergleich zu den vorherigen mehr als Luxus. Fritz schaut am nächsten Morgen als erster aus dem Fenster. Seine Aussage, daß es draußen schneie, ist nicht der zweifelhafte Witz, für den wir anderen sie zunächst halten, sondern Tatsache. In der Nacht hat das Wetter umgeschlagen und es liegen wohl schon 30 cm Neuschnee in den steilen Flanken. Die Vorstellung vom eigenständigen Abstieg kann somit endgültig aufgegeben werden. Über das solarbetriebene Funkgerät in der Hütte nehmen wir Gästebuch & Kontakt mit der Bergrettung in Zermatt auf. Sobald es die Wetterverhältnisse zulassen, wird ein Hubschrauber kommen…

Der Tag vergeht mit Dösen, dem Auskochen unserer letzten Teebeutel und der gelegentlichen Inbetriebnahme des Heizstrahlers. Fritz hat die großartige Idee, die Mülltüte nach brauchbaren Gegenständen zu durchsuchen und findet tatsächlich sechs gefrorene, nur einmal gebrauchte Teebeutel; schwarzer Tee und sogar Früchtetee… das hilft uns schon weiter, das heiße Schneewasser nimmt wieder Verfärbung und einen leichten Geschmack an. Eine Dose Eisbein in Aspik besitzen wir noch, -Ironie des Schicksals-, daraus und aus gefrorenem Weißbrot, das sicher schon einige Monate hier oben liegt, brauen wir abends eine Suppe…

Der nächste Tag bringt wenig Abwechslung. Draußen alles Grau in Grau, Wind und Schneefall… Eigentlich sollte ich um 7 Uhr 30 in der Arbeit sein… Unseren ”Tee” hätten nur noch überzeugte Anhänger der klassischen Homöopathie als solchen bezeichnet. Bei einer genaueren Inspektion der Hütte finden sich zwei Liter H-Milch und eine tschechische Gulaschsuppentüte. Die Milch gibt es über den Tag, am Abend dann die Suppe, etwas dünn aufgekocht, dafür mit eingeweichtem Weißbrot eingedickt. Weizi erzählt einige Witze, die wir schon kennen; wir lachen trotzdem, und nicht nur aus Höflichkeit… Ansonsten ist jede Verpflichtung zur Konversation verschwunden, was durchaus angenehm ist, völlig selbstverständlich hocken wir herum, zum Teil vor dem Heizstrahler und lassen die Zeit vergehen… -Warten in Reinform, Essenz des Wartens… Was wohl die anderen denken? Ich komme nicht los von einem Topf mit Weißwürsten, frische Brezn dazu und ein Weißbier, Senf nicht zu vergessen… Am Nachmittag lichten sich die Wolken teilweise, sogar die Sonne kommt durch. Wir hören den Hubschrauber schon, da zieht es wieder zu…

Auch der dritte Tag beginnt nebelgrau. Zum Frühstück und Mittag gibt es je einen Becher heißes Schneewasser. Im Laufe des Tages beginnen wir zum Zeitvertreib, die Hütte richtig aufzuräumen. Penibel kehren wir mit einem Handbesen kleinste Schneereste zusammen. Ich schaufle unnützerweise die Plattform vor der Hütte frei, bemühe mich um saubere Arbeit, obwohl kaum bald jemand vorbeikommen wird, der sich daran stören könnte. Kein Wind, lautlos ziehende Nebel, völlig unnütz, außer daß wir weiter hier oben sitzen müssen… ich richte negative Energien auf den Nebel, Verwünschungen, brummle und fluche vor der Hütte vor mich hin, ohne auch nur den geringsten Einfluß nehmen zu können; ganz im Gegenteil, unverschämterweise verdichtet sich der Nebel sogar noch… Am Nachmittag reißt es wie am Vortag wieder auf. Wieder startet der Hubschrauber, 800 Meter tiefer, vor der Hörnlihütte, landet er und wartet mit laufendem Motor auf ein größeres Nebelloch, das sich nicht auftut… Groß ist unsere Enttäuschung, als wir ihn wieder ins Tal fliegen hören.

Im Lauf des Nachmittags findet sich im hintersten Winkel der Hütte eine Holzkiste, die seltsamerweise versperrt ist. Fritz spielt sich eine Weile mit dem Zahlenschloß, bis ihm Robert wortlos, in der Art eines Butlers, ein Eisbeil reicht. Der Schaft wird als Hebel angesetzt bis mit einem diskreten ”Krack” das Schloß aufspringt. Drei Augenpaare starren wie gebannt als sich der Deckel hebt und… -wir trauen unseren Augen kaum: Nudeln, Suppenpulver, eine gefrorene Riesensalami, Käse, Schokokekse, Konservendosen, Rivella-Limonade, sogar Toblerone Schokolade in Matterhorn-Form… Die Kiste ist bis zum Rand gefüllt mit Delikatessen. So eine Überraschung! Andächtig essen wir die ersten Schokoladenkekse, befreien ein gefrorenes Rivella von seiner Plastikhülle und wärmen es auf…, in großen Schlucken trinken können, köstlich! Wieder wird es Abend, aber wir sind zuversichtlich. Die Hütte ist aufgeräumt, die Freßkiste reicht mindestens für zwei Wochen und die Temperatur ist soweit gestiegen, daß vereinzelt Wassertropfen von der Decke fallen. Sogar die Mäuse sind erwacht und scharren hinter der Holzvertäfelung.

Als es am Abend beinahe gemütlich wird, schnarrt plötzlich das Funktelefon. Die Nebel haben sich aufgelöst, draußen ist es sternklar und windstill. Der Hubschrauber wird gleich starten, wir sollen uns fertigmachen… Schnellstmöglich packen wir unser Zeug zusammen, bald hören wir auch schon die Motorengeräusche und sehen die Lichter blinken. Wenige Minuten später schwebt er über uns, die Suchscheinwerfer blenden, Schneestaub wirbelt, ich klinke mich als erster in den Haken am Ende des Stahlseiles ein. Wenige Sekunden später hänge ich zehn Meter unter dem Hubschrauber mit tausend Meter Luft unter dem Hintern und weiß nicht ob ich staunen oder mich fürchten soll, was aber auch nichts hilft… Psychologie und Philosophie gelten hier nichts, der Auftrieb der Rotorblätter und die Reißfestigkeit des dünnen Stahlseils kümmern sich darum überhaupt nicht; Grundlage unserer Rückkehr in die Zivilisation sind allein die Gesetze der Physik und die Flugkunst der Piloten. Der Eindruck aber ist gewaltig, auf der einen Seite ganz nah das unerhört steile Matterhorn, ringsum die Berge im Mondlicht, tief unten Zermatt. Ohne Zwischenfälle werden auch die beiden anderen abgeholt. Sechs Tage nach dem Aufbruch endet unser Abenteuer am Hubschrauberlandeplatz in Zermatt anders als geplant…

Eigentlich hatte der Autor die Absicht, an dieser Stelle einige schlaue Argumente zur Rechtfertigung derartiger Unternehmungen anzuführen. Aus Platzgründen soll darauf verzichtet werden, nur soviel:

Es gab immer schon Menschen, die mit den Erlebnismöglichkeiten des normalen Kulturbetriebes nicht so recht glücklich zu werden vermochten und dann eine Neigung entwickelten, freiwillig so zwecklosen wie mühevollen, auch nicht ungefährlichen Beschäftigungen nachzugehen, die gemeinhin als ”abenteuerlich” bezeichnet werden. Abenteuer: In der Wortbedeutung steckt, daß die, die es aufsuchen (also die Abenteurer), trotz aller Vorsicht es dennoch mit nicht vorhersehbaren Unwägbarkeiten zu tun haben, deren Überwindung ihnen aber unter anderem eine gewisse seelische Beruhigung und Befriedigung, um nicht zu sagen Befreiung zu verschaffen in der Lage ist. Hindert man solche Menschen an ihrem Tun, so werden sie häufig depressiv, bisweilen aggressiv. Auch psychosomatische Körperstörungen sollen schon vorgekommen sein. Abenteuersuche ist ein Bedürfnis, das rational weder ganz verstehbar noch in den Griff zu bekommen ist. Hin und wieder kommt es dabei anders als man denkt. Ein vollständig berechenbares und planbares Freizeitprogramm kann kein Abenteuer sein! Nach fünf Tagen Fasten eine Kiste voller Essen finden, das muß man auch einmal erlebt haben! Und: gebraucht haben wir nicht zuletzt deshalb so lange, weil wir uns in der Wand die Zeit nahmen, kompromißlos sichere Standplätze einzurichten.

P.S.: 25 Jahre unterwegs in den Bergen, wenig ernste Situationen dabei, weder im Sommer noch im Winter; mit 16 die erste Route im Bereich des sechsten Grades; beim Klettern kein wirklich gefährlicher Sturz, lediglich kleinere über sicheren Haken, in den letzten Jahren nicht einmal mehr das; dann Ende Mai im Klettergarten am Gardasee: der andere glaubt, ich mache Stand; ich glaube, er lässt mich ab; der andere hängt die Sicherung aus, ich lehne mich im Seil zurück; 30 Meter freier Fall bis zum Boden; beim dumpfen Aufprall bricht die Wirbelsäule. Das Unvorstellbare ist geschehen, im Klettergarten. Geschichten aus den Bergen wird es keine mehr geben.

A. H. 1998



Bilder

1 Das Matterhorn, von unten schön anzuschauen. Im Schatten die Nordwand.

2 Am Einstieg. Erst geht´s über einen 50 Grad steilen Schneehang hinauf.

3 Dort stiegen wir noch seilfrei.

4 Auf einem Schneegrat abseits der Route bezogen wir unser Nachtlager. Noch lache ich.

5 Am nächsten Morgen führt Fritz.

6 Der Schnee geht zunehmend in gefrorenen Schotter über. 

1 Die Kletterei ist unschön. Standplätze sind schwer einzurichten.

2 Robert und Fritz im Nachstieg.

3 Im Winter ist der Schotter wenigstens gefroren.

4 im nächsten Leben geh ich da sicher nicht mehr hin.

5 Weiter oben kam zunehmend Wassereis.

6 Nirgendwo gescheite Standplätze. 

1 Nach einem zweiten unbequemen Biwak steigen wir auf der

Schulter aus und zur Solvayhütte ab. Dort gib´s wenigstens Liegen

und Decken. Ein Gasbrenner findet sich auch.

2 Bei den Kameraden schauts unter den Socken nicht gut aus.

3 Am Morgen hat das Wetter umgeschlagen. Wir sind blockiert, können

nichts tun und hocken drei Tage auf der Hütte herum.

4 Tiefblick auf den verschneiten Hörnligrat.

5 Eine kleine Abwechslung ist Schneeschaufeln. Ich bemühe

mich um ordentliche Arbeit.

6 Der Stifter der Hütte, der belgische Industrielle Ernest Solvay

7 Warten auf den Hubschrauber. Gelegentlich reißt es kurz auf, aber zu kurz.

Erst in der dritten Nacht kann der Hubschrauber fliegen.

8 Im Regionalspital Santa Maria endet unser Matterhorn-Abenteuer anders als gedacht.

9 Auf so eine Schuhmode kann man gern verzichten.

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