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 Kur 2016

Bericht aus der Nebenwelt

Die Aufzeichnungen entstanden aus Tagebuchnotizen während der

Kur (oder Reha, wie man heute sagt) im August 2016 in Hopfen am See, Allgäu

 

Anfahrt

Endlich steht sie bevor, die Kur.

Am Montag den 29. 8. am Vormittag fahre ich los in Richtung Füssen. Lang war schönes Wetter, heute schifft es. Macht aber nichts. Gemütlich zockle ich auf der Autobahn dahin. Ausfahrt Irschenberg. In Bad Tölz der obligatorische Stau. Dauert. Nervt.

Um 13.40 komm ich bei der Enzensberg-Klinik in Hopfen am See an. Erster Eindruck: Bisschen am Arsch der Welt. Vom schönen Hopfensee fährt man den Hang hoch bis zum Wald, wo es nicht mehr weitergeht. Dort steht die Klinik. Ziemlich groß und unübersichtlich, wie mir dünkt.

 

Ich parke mein Auto, werde leicht nass als ich den Rollstuhl aus dem Kofferraum wuchte und zum Eingang rolle. Bin ich hier überhaupt richtig? Da ist auch gleich so eine Art Rezeption, ich bin richtig. Man verweist mich zur Station, wo ich mich melden soll.

Gesagt, getan. Schwester Gisela empfängt mich freundlich im Stationszimmer und misst auch gleich meinen Puls. 84. Hoppla, denke ich mir das hatte ich ja noch nie. Da wäre ich ja krank.

 

Ich messe selber noch mal und komme auf 60, was ich ihr mitteile. Sie misst auch noch einmal und kommt nun ebenfalls auf 60. Wie ich den so schnell runtergebracht hätte, meint sie.

Im Schwesternzimmer sitzt noch einer. Mit einem blauen Arbeitskittel. Ich halte ihn für den Kofferträger. Schwester Gisela meint der Arzt macht jetzt mit der Aufnahme weiter. Ich denke, dass ich nun in ein anderes Zimmer gebracht werde, zum Doktor. Wie sich aber herausstellt ist der vermeintliche Kofferträger der Doktor.

 

Er stellt sich vor, kein deutscher Name, riecht nach Rauch wie ein gebrochener Ofen, ist aber sehr nett. Wir reden ein bisschen, woher ich komme, wie der Unfall passiert ist usw. Er spricht mich grundsätzlich mit Du an, was vielleicht nicht jeder mag, mir aber egal ist. Als ich schließlich, nach meinem Beruf befragt, vermelde, dass ich in einem ähnlichen Haus als Psychologe arbeite, schwenkt er zum Sie über. Im Weiteren sagt er mal Sie mal Du. Egal, wie gesagt. Viel wichtiger ist, dass er mir nicht zu viele Anwendungen verpasst. Ob ich Medikamente nehme? Ich verneine. Überhaupt keine? Nein, gar nichts.

 

Nach meinen Erwartungen an die Reha (Kur sagt man nicht mehr) befragt, gebe ich an (in der Reihenfolge): körperliche Kräftigung, Gewichtsabnahme, Erlangung der inneren Mitte.

 

Nun stellt sich die Frage, wie ich dem Doktor nahebringen kann, dass ich für eine gelungene Rehabilitation eigentlich nichts weiter benötige als Zeit und mein Handbike. Tabletten esse ich nicht. Rauchen aufhören brauch ich nicht weil ich nicht rauche, beim Übergewicht handelt es sich um 3 Pfund, also auch nicht so schlimm und meinen Rehazielen, ich wiederhole Kräftigung, Abnehmen und Erlangung der inneren Mitte, komme ich, wie mir dünkt, auf keine Weise näher als mit Hilfe meines Handbikes.

So kann man das natürlich nicht sagen. So sag ich nur, dass ich mein Handbike dabeihabe und ein begeisterter Handbiker bin, was nicht übertrieben ist und dass ich gern am Nachmittag möglichst oft mit dem Rad herumfahren würde, ob man das bei den Anwendungen berücksichtigen könne. Der Doktor scheint mein Anliegen zu verstehen.

 

Er erzählt, dass er selbst gern Rad fährt, allerdings E-Bike, und warum ich noch kein E-Bike besitze, das wäre doch viel gescheiter, viel weniger anstrengend. Im Moment noch zu jung, sage ich, aber irgendwann kaufe ich mir eins. Wir unterhalten uns dann noch einige Zeit über das Für und Wider von E-Bikes. Dann schaut er in irgendwelche Formulare: „Hirschbichler, das ist ihr Hausarzt?“ meint er. Nein sage ich, das bin ich selber. Pichler. Ach, da stehts ja. Damit bin ich entlassen.

 

Mein Zimmer liegt gleich neben dem Stationszimmer. Am Anfang gefällt mir die Sache gar nicht recht, zu viel Krankenhausatmosphäre. Nach meiner persönlichen Meinung sollte man allem was mit Krankenhäusern, Ärzten usw. zu tun hat möglichst aus dem Weg gehen. Da wird man bloß krank davon. Aber jetzt bin ich da und muss irgendwie klarkommen. Erst mal das Gepäck einräumen. Dafür gibt es einen geräumigen Schrank. Im Zimmer steht ein zweites Bett, das ist leer. Es kommt auch keiner mehr. Ich bin ich allein. Gott sei Dank.

Ein bisschen lege ich mich aufs Bett, dann ist es Zeit zum Abendessen. Zum Speisesaal ist es ganz schön weit, aber er ist leicht zu finden. Zum Glück, weil ich mich in großen Gebäuden gern verfahre.

 

Am Eingang zum Speisesaal steht einer mit einer Liste und führt Neulinge wie mich zum vorgesehen Tisch. Vier sitzen schon da, ich bin der Fünfte, ein Platz bleibt frei. Zwei Frauen, zwei Herren. Die Begrüßung ist eher kühl, die anderen kennen sich schon länger. Die Herren heißen Tobias und Karl-Heinz, die Damen kann ich mir beim ersten Mal nicht merken. Die Männer reden beim Essen nicht, die Frauen dafür umso mehr. Schließlich ist doch zu erfahren, dass Tobias aus Thüringen kommt und morgen heimfährt. Fünf Wochen war er da. Aus Gründen, die mir entfallen sind, hat er ein Bein verloren und trägt nun eine Prothese, was man, wenn er Hosen anhat, nicht sieht. Karl-Heinz ist zuerst ziemlich still aber als wir nach dem Essen allein sind, wird er gesprächig. Er sei Schmerzpatient, seit vielen Jahren, Rentenantrag wurde abgelehnt, jetzt Widerspruch mit Hilfe des VdK. Offensichtlich ein schwieriger Fall. Weder die Medizin noch die Psychologie sind so weit, dass man ihm helfen kann. Interessant für mich ist, dass er ein sehr netter Mensch ist, der in keiner Weise zu Übertreibungen neigt. Hat einfach Schmerzen, für die keine Ursache gefunden werden kann. Klingt immer nach Simulation, Aggravation, Rentenbegehren. Für mich auch, wenn mir das ein Patient erzählt. Jetzt ist es anders. Ich bin inkognito da, als Mitpatient. Er bräuchte mir keine Märchen zu erzählen. Schmerzen. Jeder kann alles erzählen, ob´s stimmt weiß keiner. Eine Ärztin unserer Klinik schaute abends mal zufällig im hauseigenen Bierstüberl vorbei. Da tanzte grad einer der sich tagsüber kaum rühren konnte.

 

 

Nach dem Essen geh ich wieder auf´s Zimmer, lese die Hausordnung. Fernseher, Telefon, Internet, alles kostet extra. Fernsehen 2 Euro am Tag. Dann eben nicht. Ist für die Selbstfindung eh viel gescheiter. Die Glotze lenkt mich nur ab von meinem vorrangigen Rehaziel „Erlangung der inneren Mitte“. Das Handy reicht für Kontakte mit der Außenwelt. Links und rechts vom Fernseher sind Leuchten an der Wand befestigt wie man sie aus Aussegnungshallen kennt. Vielleicht ein billiger Restposten.

 

 

Abends fahr ich nach Füssen, trinke ein Weißbier und hänge meinen Gedanken nach.

Schließlich Nachtruhe. Das Bett ist etwas schmal und gewöhnungsbedürftig. Das Zimmer hellhörig. Irgendwann in den frühen Morgenstunden klingt es als ob jemand Flaschen in einen Glascontainer schmeisst. Im Schwesternzimmer nebenan Stimmen, Lachen, Dienstübergabe? Dann noch ein undefinierbares Geräusch als ob jemand mit einer Metallstange auf Heizungsrohre drischt.

Um halb Acht nimmt mir eine Ärztin Blut ab. Die Dame, lässig gekleidet, kein weißer Kittel oder so was, ist nur am Namensschild als Ärztin erkennbar. Blutabnahme geht aber glatt. Am Frühstückstisch erfahre ich von Karl-Heinz, dass die Klinik früher mal ein Sporthotel war das abgebrannt ist. Ich erzähle, dass es in der Nacht ziemlich laut war. Er erzählt, dass kürzlich welche am Balkon bis halb Zwei in der Früh Abschied gefeiert hätten. Rauchen am Zimmer würde 400 Euro kosten, fürs Weißeln des Zimmers, außerdem würde man entlassen. Sehr vernünftig. Ob das alles so stimmt weiß ich natürlich nicht.

 

Nach dem Frühstück stehen an allen Eingängen Nikotiniker herum, die an ihren Glimmstängeln inhalieren, es ist überall das gleiche. Warten auf Visite. Im Zimmer scheint es am Tag wesentlich ruhiger zu sein als in der Nacht. Dann geht’s in den Gymnastikraum wo eine junge Physiotherapeutin mit mir das Einführungsgespräch absolviert. Was ich mir erwarte? Ich wiederhole: Muskelkräftigung, Gewichtsabnahme, Erlangung der inneren Mitte. Für´s kommende Programm scheinen hier die Physiotherapeutinnen zuständig zu sein. Nachmittag gönne ich mir einen herrlichen Nachmittagsschlaf von 4 bis halb 6.

 

Zum Abendessen gibt’s Fleischbällchen, die genauso aussehen wie die Fleischbällchen Kötbular bei Ikea. Es gibt fünf davon, mit Spagetti, eins lass ich über. Als Nachspeise gibt es einen Apfel, der etwas sauer schmeckt, sodass ich ihn nicht ganz aufesse.

 

Theodor, der Schmerzpatient, erzählt, dass er auch diese Schlafkrankheit, SAS, genauer gesagt Schlafapnoesyndrom, habe. Hat heute fast jeder anständige Patient. Einen ganz schönen Bauch hat er auch, nebenbei. Da gibt’s doch diese Maske für die Nacht? - täusche ich weniger Wissen vor als ich habe. Ja, die habe er auch. Und hilft´s wenigstens was? „Schlechter als wenn ich´s ned nimm“ seine Antwort. Er verwende sie nur für vier Stunden zum Einschlafen, dann nehme er sie ab, man – er meint natürlich sich – schwitze unter der Maske. Aha, denke ich mir. Vier Stunden, da bräuchte er sie gar nicht zu nehmen, das ist so gut wie gar nichts. Zumindest erzählt man das den Patienten bei uns in der Klinik so. Aber was soll´s! Eine wesentliche Sache in der Medizin ist, dass Kosten produziert werden. Hauptsache jeder hat alles und bekommt möglichst viele Tabletten. Ob er dann mit der Anwendung zurechtkommt oder die Tabletten überhaupt nimmt, das interessiert weniger. Bei dem Gedanken, ich sollte meine Nächte mit so einer Maske, die von einem brummenden Kasten neben dem Bett mit Luft bepumpt wird, verbringen, wird’s mir schlecht. Kann ich mir nicht vorstellen. Aber die Patienten haben selten was dagegen, wenn sie die Dinger verordnet kriegen. Ob sie´s dann nehmen ist wieder was anderes. Ich erinnere mich an einen Vortrag im Haus, den ein Arzt hielt. Er erzählte über Untersuchungen, wo man in derartige nCPAP-Masken, so heissen die Dinger, irgendwas eingebaut hatte, woraus man entnehmen konnte, wie oft und wie lang die Masken verwendet wurden. Wenn ich mich richtig erinnere, waren es mehr als die Hälfte die das teure Zeug überhaupt nicht oder viel zu selten verwendeten. Aber, wie gesagt, das ist egal, Hauptsache es werden Kosten produziert, ich sagte es bereits. Es ist nicht zu ändern. Ein mächtiges System. Es bringt nichts sich darüber aufzuregen. 

(Nachtrag: heute sind in den Geräten Zähler eingebaut und wenns einer nicht ordentlich verwendet zahlts die Kasse nicht mehr, was ja durchaus vernünftig ist.)

 

Am Abend lese ich Epikur „Über das Glück“.

Was ich sonst noch mitbekommen habe am ersten Tag: Im Gang höre ich wie ein Patient zum Doktor sagt, er werde die Sache seinem Rechtsanwalt übergeben, um was es geht konnte ich leider nicht hören, aber wahrscheinlich ging es um die Rente, besser gesagt darum, dass er sie will aber nicht kriegt. Ein häufiges Problem in Rehakliniken.

Was ich noch mitbekam: Eine ältere Dame jammert einer anderen am Gang vor, dass von den Kindern weder zu Weihnachten noch am Muttertag ein Gruß angekommen sei. Verständlich. Würde mich auch ärgern. Aber ich muss weiter.

 

30.8. (Dienstag)

Mittags mit den Anwendungen fertig. Ich starte zur ersten Radtour. Alpe Beichelstein. Die Anfahrt ist schon wunderbar, leicht ansteigend über freie Wiesen mit Blick ins Gebirge. Am Hang sehe ich eine Hütte, das muss sie sein, die Alpe (so heißen die Almen im Allgäu, Alpe). Ist sie aber nicht. Ich fahre wieder zurück und weiter am Hang entlang, wobei ich dummerweise an der Abzweigung zur Alpe vorbeifahre. Aber es gibt noch einen zweiten Weg von der anderen Seite her. Der ist sandig, und teilweise steil. Zwei Mädchen schieben mich kurz. So komme ich auch hoch. Wundervolle Aussicht. Wolkenloser Himmel. Ein Weißbier (alkoholfrei) genehmige ich mir. Dann fahr ich über die Teerstraße runter und noch rund um den Hopfensee, wie in Trance. Schön ist es hier. Hier bin ich richtig.

Abendessen. Tobias ist schon weg, dafür ist eine neue da, Julia. Asiatische Gesichtszüge, aber schon lang in Deutschland, hier verheiratet. Als Krankenschwester gearbeitet, nett, ob ich verheiratet bin, fragt sie. Nein. Eh das gescheiteste, sagt sie. Dass sie mal vom Mann weg ist, sei ein wesentlicher Grund für ihre Reha. Nie macht er das Licht aus. Für eine Umerziehung wird es wohl zu spät sein, sage ich, aber ich denke, dass das nicht das einzige ist was sie nervt.

 

31. 8. (Mittwoch)

Ich komme etwas später zum Frühstück. Die anderen sind schon weg, nur Karl-Heinz sitzt noch da, mit dem Frühstück ist er schon fertig, trotzdem sitzt er noch da, in sich ruhend und schaut bloß. Ich sage ihm, dass ich das bewundere, wenn einer noch sitzen kann und schauen, dass das nur wenige tun, allen pressiert´s immer.

Er erzählt dann, dass er daheim zu so einer Gruppe geht, zum Reden, Fünfundzwanzig Teilnehmer, alles Frauen, er der einzige Mann. Zum Psychiater gehe er auch. Von dem bekomme er Medikamente. Die nehme er jetzt auch. Ach so, denke ich mir, deswegen sitzt er so ruhig. Fast bin ich ein bisschen enttäuscht. Am Anfang dachte ich, dass er aus sich heraus ruhig sitzen könnte. So weiß man nicht welche Ruhe seine ist und welche von der Chemie kommt.

Psychopharmaka. „Die Leute nehmen das Zeug wie Smarties“ meinte eine Ärztin bei uns mal. Komische Menschheit.

 

Am Vormittag noch Vortrag „Einführung in die Entspannung“. Die Referentin, es handelt sich um eine Psychologin, kein Zweifel, braune Haare, hübsch, figurbetonte Jeans, am T-Shirt in großen Buchstaben „NOT AVAILABLE“, nicht verfügbar, aha, denke ich mir, dann eben nicht.

Frage am Anfang ins Publikum, was man zur Entspannung mache. Gute Frage. Was mir dazu einfällt: Handbike-Fahren, Spannung gar nicht erst aufkommen lassen, Achtsamkeit, die Bedeutung der Dinge relativieren, sich selber nicht so wichtig nehmen, dran denken, dass man von einem Berg runterschaut und wie klein von da oben alles ist. Vom Staufen oben ist die Klinik Bad Reichenhall gerade noch zu sehen. Einzelne Menschen überhaupt nicht mehr. Noch besser wärs wenn man vom Mond runterschaut. Das denk ich mir, sag es aber nicht.

 

Was sie dann über Stress und Entspannung erzählt weiß ich alles, könnte es so aber nicht sagen. Dann steht Fango am Programm. Angenehm.

Mittagessen. Julia erzählt, dass sie bloß fünf Tage hier bleiben darf, weil sie als Akutfall geführt wird. Sie rechnete mit 2-3 Wochen.

Gleich nach dem Essen starte ich mit dem Auto, das Radl hinten drin, nach Pfronten, etwa 20 Kilometer. Durch das Vilstal ins Tannheimer Tal, zum Vilsalpsee und über Grän zurück hab´ ich mir ausgedacht. Eine schöne Runde. Ich war schon mal da, 2002, damals fuhr ich noch nicht lange Handbike, mit Gaby, damals ohne Hund. Undeutliche Erinnerungen. Damals fuhren wir in Tannheim los. Erst bergab nach Pfronten, zurück alles bergauf, durchs Tal der Vils. Wie weit das war und wie lang es dauerte, keine Ahnung. Wird schon gehen. Um 1 Uhr mit dem Rad los, um 5 zurück. Traumhafte Tour. Ich bin glücklich.

 

1.9. (Donnerstag)

Um 10 Uhr Stehtraining. In aufrechter Haltung wird man in einem Gestell festgemacht. Mit einem Bügel am Hintern. So kann man nicht umfallen und sich sonst aber auch nicht rühren. Oberkörper bleibt frei beweglich, Arme angewinkelt aufgelegt. Das Gestell steht so dass man durch große Fenster hinausschauen kann. Viel zu sehen gibt’s draußen nicht. Bäume, ein Sträßchen, Raucher.

Neben meinem Gestell eine Liege, wo gerade ein Beamter, Figur wie ein Maikäfer, eine Einzelbehandlung bekommt. Erzählt zehn Minuten dem Therapeuten, was er wollte, von der Krankenkasse, und die das nicht genehmigten, genauer gesagt nicht genehmigen wollten. Dass der Abteilungsleiter der Krankenkasse gesagt habe, dass er so mit seinen Untergebenen reden könne aber nicht mit ihm. Und dass die Beihilfe 70% übernimmt. Vermutlich bekam er doch was er wollte. Man muss nur lästig genug sein. Als Beamter hat er garantiert genügend Zeit und Energie zum lästig sein.

Danach ist Vortrag „Einführung in MTT“, wobei MTT für Medizinische Trainingstherapie steht. Der Vortrag ist interessant, weil ich viele Fehler erkenne, die ich selber mache bei Vorträgen.

Beim Essen erzählt Karl-Heinz dass er mit Hilfe seiner Psychologin draufgekommen sei, woran er leide. Zu wenig Wärme und Liebe als Kind. Na ja, klingt gut, aber so geht’s wohl jedem.

Hanni erzählt, dass sie mal in Berchtesgaden gewohnt habe, ihr Mann beim Barras sei und sie nun in Schwangau lebten. Sie arbeite in einem Trachtenmodengeschäft. Interessant. Hanni wirkt ziemlich jung, ist nicht die dünnste und ziemlich gesprächig. Eine Bereicherung für jeden Frühstückstisch.

Julia kommt aus Korea.

Die beiden anderen Damen, deren Namen ich mir am Anfang nicht merken konnte, heißen Claudia und Petra.

Ich lerne noch Barbara kennen, junge Polizistin aus Österreich, Unfall mit Dienstwagen, Schädel-Hirn-Trauma, keiner hielt es für möglich, dass sie überlebt. Und jetzt ist sie zum 17. (siebzehnten) Mal hier in der Klinik Enzensberg. Das merkt man. Verhält sich so als ob sie zum Inventar gehört, hospitalisiert würde ich es nicht nennen, aber vertraut mit dem Haus, gut eingelebt.

Nach dem Abendessen starte ich zu einer Radtour, nach Roßhaupten will ich, verschleiße aber meine Kräfte auf einem frisch gesandeten Weg, wo die Räder, bergauf, tief einsinken.

Auf einem Waldweg danach kommt Baz, der überhaupt nicht mehr befahrbar ist. So muss ich umkehren, Rad und Mensch ziemlich verdreckt.

 

2.9. (Freitag)

Am Nachmittag wollte ich eigentlich Radfahren, überlegte es mir spontan aber anders und gehe nach Füssen zum Friseur. Nette Friseuse, schön ist´s geworden. Hernach sonne ich mich auf einer Wiese am Forggensee.

 

3.9. (Samstag)

Nach dem Frühstück starte ich nach Bad Hindelang. Durch´s Hintersteiner Tal zum Giebelhaus und weiter zur Schwarzenberghütte ist eins meiner vorrangigen Ziele. Vom großen Handbiker Veit Riffer gibt’s Informationen über die Tour im Internet. Ziemlich steil soll´s sein zur Hütte hoch. Ich parke schon ein paar Kilometer vor dem Ort Hinterstein, dass ich keine Kilometer herschenke. Durchs schöne Hintersteiner Tal führt eine Asphaltstraße zum Giebelhaus, für Autos gesperrt, nur der Wanderbus darf fahren. Die Steigung ist mäßig, die Landschaft wird immer schöner. Allgäu ist das Land der Kühe, so viele auf einmal gibt’s bei uns nicht. Dann das Giebelhaus, traditionelles Bergwirtshaus, der Ort hat was, ich fahre aber gleich weiter. Die Straße wird steiler aber noch kein Problem. Bald ein Schild „Schwarzenberghütte“. Rechts ab. Sofort wird’s richtig steil, sicher deutlich über 20%. Ich fühle mich bestens, bleibe aber oft stehen, weil ich mir denke „warum soll ich mich so schinden auf meine alten Tage?“ Erst geht’s durch Wald, oben freie Wiesen mit vereinzelten Bäumen Bergahorn. Schließlich die Hütte, Schwarzenberghaus, wunderbare Aussicht, keine Wolke am Himmel. Ich genehmige mir ein Weißbier (alkoholfrei) und freue mich, dass ich so gut hoch gekommen bin. Hunger hab´ ich keinen, drum fahr ich bald wieder runter. Bei der Abzweigung unten schaut der Weg, der weiter ins Tal hinter führt, so schön aus, dass ich da auch noch hin will. Mäßig steil geht’s dahin, der Wald lichtet sich, traumhafte Landschaft, hinten, gegen den Talschluss, wird´s wieder steiler, bis zur Alpe Plättele führt der Weg. Zum Schluss wird´s noch mal richtig steil, Serpentinen, ein paar Meter dürften so bei 30% liegen, gerade noch komme ich hoch. Bei der urigen Alm trinke ich noch mal ein Weißbier (alkoholfrei), die Sonne scheint, die Welt ist schön.

Zurück zum Auto geht´s nur bergab. Rollen und schauen.

Rückfahrt zur Klinik vom Oberjoch durchs Tannheimer Tal. In Grän, anlässlich einer Pinkelpause fällt mir ein Parkplatz am Hang auf, wo ein paar Autos stehen. Neugierigerweise fahr ich mal hin. Nur mal schaun was das für ein Parkplatz ist. Der gehört zu einem Hotel mit Terrasse und traumhaftem Panoramablick. Die Sonne scheint auch noch hin. Genau richtig denke ich mir, die Grillvariationen hab ich mir verdient. Und ein Weißbier (alkoholfrei). Gott sei Dank musste ich pinkeln, sonst wäre mir das Hotel (Bergblick heisst´s) gar nicht aufgefallen. Supertag!

 

4.9. (Sonntag)

Radtour Forggensee – Bannwaldsee – Neuschwanstein – Bleckenau.

In Erinnerung ist mir eine ältere Dame, Fußgängerin, an einer kurzen Steigung am wundervollen Radweg entlang des Forggensees. „Do gaht´s fei scho nof“ (da geht’s aber schon hinauf), meint sie als ich an ihr vorbeifahre. „Dafia geht´s do hint´ glei wieda owi“ (dafür geht’s da hinten gleich wieder hinunter) sage ich und hoffe, dass sie mich versteht. Beim Weiterfahren geht mir ihr „do gaht´s fei scho nof“ noch länger im Kopf um. Einen lustigen Dialekt haben sie ja schon, die Allgäuer. Es scheint sich insgesamt um einen besonderen Menschenschlag zu handeln.

Am Parkplatz von Neuschwanstein eine andere Welt. Überall Japaner und sonstige Asiaten. Mit meinem Handbike bin ich eine seltene Erscheinung. Ich fahre nur so schnell wie möglich durch. Menschenansammlungen mochte ich noch nie.

Ein Asphaltsträßchen führt zum Schloss hoch. Viele Fußgänger sind unterwegs. Und Pferdekutschen mit Anhängern. Wenn welche Vorbeifahren mache ich eine Handbewegung zum Gruß und die Töchter Nippons lächeln mir zu. Süß. Aber trotzdem wird man nicht schlau aus diesem Volk. Freundlich aber undurchschaubar. Noch nicht lang her, dass ihre Vorfahren, die Samurai, um zu sehen ob ihre Schwerter scharf genug sind, Menschen zerhackten und Feinden die Köpfe ab. Wenn einer Mist baute, konnte er seine und die Ehre seiner Familie nur durch Sepuku retten, das heißt, er musste sich einen Dolch in den Bauch rammen, noch ein paar mal umrühren, in einer genau vorgegebenen Weise, bis das Licht ausging. Sepuku – nicht zu verwechseln mit Sudoku – bei denen eine ganz normale Sache. Und jetzt sitzen sie da in den Kutschen nach Neuschwanstein rauf und lächeln mir zu. Aber mir können sie nichts vormachen.

 

Was ich mir noch denke beim Hinauffahren: Wie gut ich’s doch habe an meinem Arbeitsplatz, wenn ich mir die armen Gäule anschaue mit ihren Scheuklappen. Den ganzen Tag Kutschen mit Japanern nach Neuschwanstein hochziehen. Da arbeite ich immer noch lieber in der Klinik Bad Reichenhall.

Beim Schloss komme ich aus Versehen in den Innenhof, wo es nicht weitergeht. Aber ich finde gleich das Sträßchen ums Schloss herum und weiter in die Bleckenau. Ein paar hundert Meter hinter dem Schloss ist kein Mensch mehr.

Ein Asphaltsträßchen führt am Bach lang, weiter als gedacht und schon noch ein paar Höhenmeter. Ich hole ein Pärchen ein, sie ein ausgesprochen hübsches Geschöpf. Wenn es flach ist bin ich schneller, steil bergauf die beiden.

Im Wirtshaus in der Bleckenau, einem ehemaligen Jagschlösschen vom König Ludwig, trinke ich ein Weißbier (alkoholfrei). Da es nach Gewitter ausschaut halte ich mich nicht lange auf. Zurück geht es bis auf einen kurzen Gegenanstieg bergab. Bald bin ich wieder beim Auto. Ohne nass geworden zu sein. In Hopfen esse ich auf der Seeterrasse eine Pizza mit Weißbier (alkoholfrei), gerade als ich das letzte Stück verdrückt habe, fängts zu regnen an. Und das richtig.

 

5.9. (Montag)

Am Morgen Regen. Eine Frau im Gymnastikraum, eigentlich mehr Halle als Raum – überall stehen Liegen rum, Stehbarren, Matten und sonstige Therapiegeräte – fiel mir schon länger auf. Im Rollstuhl, hoher Querschnitt, kann auch die Hände kaum bewegen, trotzdem gutaussehend, sympathisch, positive Ausstrahlung. Ich erfahre: Vor acht Jahren kam es aus heiterem Himmel zu einer Einblutung ins Rückenmark. Rauchte nicht, trank nicht, machte viel Sport. Folge hoher Querschnitt! Ist allein völlig hilflos, Mann und Kinder halten zu ihr. Was soll man dazu sagen?! Raucher, Säufer und Gauner aller Art bleiben oft gesund bis ins Alter.

Warum? Unnütze Frage. Der liebe Gott weiß es. Und weil er uns liebt tut er immer das Beste für uns. Das sollen die guten Christen mal einem anderen erzählen! Ich glaube diesen Quatsch jedenfalls nicht.

 

6.9. (Dienstag)

Hanni beim Frühstück: sie bekomme gleich nachher eine Beruhigungsspritze, dann eine richtige Spritze gegen die Schmerzen, zuvor müsse sie aber noch eine rauchen, unbedingt. Ich frage ob sie es für möglicht hält, dass die Spritze nicht so gut wirkt, wenn man zuvor raucht. Und wenn’s so wäre, sie müsse eine haben, sagt sie. Die Raucher, eine seltsame Menschenart. Was diese dämlichen Glimmstängel aus den Menschen machen, Nichtraucher - oder besser gesagt Nichtnikotiniker – verstehen es nicht.

Tja die Raucher. Manchmal seh ich nach ihnen. Nach dem Essen und zwischen den Anwendungen hocken sie auf Bänken vor der Klinik rum, haben immer was zu palavern. Manche hocken nur so da und ziehen an den Glimmstängeln, aber meistens stehen oder sitzen welche beisammen. Eine noch ganz junge Pummelige ist immer da. Vermitteln den Eindruck, dass die Qualmerei ihr Höchstes ist. Ich denke, sie leben um zu rauchen. Machen Anwendungen nur, dass sie danach wieder rauchen können. Das Gleiche gilt fürs Essen. Von Zigarette zu Zigarette hangeln sie sich durch den Tag, durchs Leben. Eigentlich traurig.

Im Gymnastikraum sitzt einer an einem Gerät. Immer wenn er das Gewicht hebt verschiebt sich sein T-Shirt und man sieht seinen Hintern, eigentlich ist es kein Hintern, sondern ein unappetitlicher fetter Arsch.

Bei der Einzel-Krankengymnastik sage ich zu Steffi, so heißt meine Therapeutin, dass mich Klinik-Gymnastikräume immer an die Bilder von Hieronymus Bosch erinnern.

 

Der Gymnastikraum. Meistens sitzen einige ältere in Rollstühlen da und warten auf die Anwendung. Schlaganfallpatienten. Vom Hol-und-Bring-Dienst angeliefert. Alt und hilflos sein, allein nicht aus dem Bett rauskommen, oder aufs Klo. Ein schrecklicher Gedanke. Manche dösen in ihren Rollstühlen, die Sinne nicht mehr beisammen. Wirklich schrecklich.

Ein Patient der immer mit einem Helm rumläuft, erzählt, dass er eine Delle im Kopf habe, das dazugehörige Gehirn befinde sich tiefgefroren in Murnau, er bekomme es hernach wieder. Kaum zu glauben, aber wenn er es sagt.

Einer vom Hol-und-Bring-Dienst schiebt einen Patienten im Rollstuhl durchs Haus. Der Patient muss dahin, „wo man die Knöpfle drücken muss“, meint er, eine nette Beschreibung für den Test beim Psychologen.

Am Nachmittag fahre ich die Tour Weissenbach – Namlos – Rinnen – Rotlechstausee, die auf der Landkarte sehr schön ausschaut. In der Früh regnete es noch, dann lichten sich die Wolken. So starte ich. Mit dem Auto bis Weissenbach im Lechtal. Mit dem Radl erst auf der Straße, dann dem wundervollen Lechtalradweg folgend bis Stanzach. Dort beginnt die Steigung in Richtung Namlos. Am Wochenende soll man hier nicht fahren, sagte man mir. Heerscharen von Motorradfahrern seien unterwegs. Als Handradfahrer mag ich sie nicht so besonders, die Motorradfahrer. Oft denke ich mir, die sollten bergauf mal zehn Prozent Eigenleistung erbringen, dann wär´ das Geknatter gleich viel weniger. Egal, heute unter der Woche ist kaum was los. Mäßig ansteigend gewinnt die Straße an Höhe, bevor sie am Hang oberhalb einer Schlucht taleinwärts führt. Schließlich Namlos. Ein schöner Name. Das Kaff hatte demnach lang überhaupt keinen Namen. Viel los ist immer noch nicht. Ein paar Häuser, ein Wirtshaus entdecke ich auch. Eine kleine Pause kann nicht schaden. Als die Wirtin meine Apfelsaftschorle bringt frage ich wie der Weg über den Rotlechstausee so sei, da wolle ich hin. Unmöglich meint sie, da käme man nur mit Mountainbike durch. Oh je. Was tun? Soll ich gleich zurückfahren? Oder die Weiterfahrt riskieren? Laut Karte soll da ja eine Forstraße sein. Aber wenns wirklich nicht geht, ist ein weiter Umweg fällig, es würde auf jeden Fall finster, und die Kräfte... Egal. Ich fahre weiter. Von Namlos geht es weiter ordentlich bergauf, bis es endlich wieder bergab geht, die Landschaft selten schön. Vor Rinnen, wo die Straße zum Rotlechstausee abzweigt, wartet noch mal ein Gegenanstieg, zum Glück hab ich heute einen guten Tag. So, da wären wir. Ziemlich tief drunten der Stausee. Gerade tankt ein junger Bursche einen Traktor auf, an dem Wägelchen hinten dranhängen, mit dem die Touristen tagsüber zum See hinunter und wieder herauf gekarrt werden. Bei dem erkundige ich mich noch mal nach dem Zustand des Weges. Eigentlich gut, bis auf eine Furt mit grobem Schotter, meint er. Handräder sind was seltenes. Sicher ist es schwer einzuschätzen, was mit so was fahrbar ist oder wie steil oder wie weit jemand mit Armkraft kommt. Das Problem, wenn man andere fragt, ist, dass es stimmen kann oder auch nicht was man da so erfährt. Eigentlich kann man sich das Fragen sparen. Nun gut, mit gemischten Gefühlen, fahr ich runter zum Stausee, der schotterige Bachübergang ist völlig harmlos. Dann kommt eine ganz normale Forstraße. Ich bin der letzte Mensch, der unterwegs ist, langsam und besinnlich kurbele ich in völliger Stille dahin. Ein paar kurze Gegenanstiege noch, dann geht’s hinunter ins Lechtal. Ein paar Kilometer noch zurück, dann steh ich wieder beim Auto. Ein ausgefüllter Tag, viel gesehen, den Armen reicht es auch, Unwägbarkeiten steigern das Erlebnis. Eine Supertour, von 13 bis 17.15 Uhr war ich unterwegs.

 

Abends noch im Bad der Klinik mit Renate und Claudia, ausgesprochen nett, beide. Claudia, die in der Psychosomatik liegt, erzählt von ihrer Zimmergenossin, die depressiv ist. Als kürzlich die Schwester ein paar Mal im Zimmer war und die andere nie da, bekamen sie´s mit der Angst zu tun und riefen die Polizei. Die Depressive war aber nur zufällig immer nicht da und das Missverständnis wurde schnell geklärt.

Wenn jemand sich was antun will, soll er wenigstens so freundlich sein und eine Nachricht hinterlassen, sage ich, einen Zettel. Bin im Hopfensee, oder so. Tagelang Hundertschaften Polizisten beschäftigen und Hubschrauber, bloß weil man keine Lust mehr hatte, das gehört sich nicht, sage ich. Die beiden lachen und meinen ich hätte einen schwarzen Humor.

 

7.9. (Mittwoch)

Bei irgendeinem Vortrag, ich weiß nicht mehr um was es ging, lerne ich Lisa kennen. Irgendwie kommen wir ins Gespräch und auch gleich über Dinge über die man sonst eher weniger spricht. Wie das mit dem Pinkeln und Klogehen ist bei Querschnitt. Ich sags wie´s ist, dass die besten Zeiten am Klo vorbei sind, erzähle vom Triggern und von Abführmitteln usw. Sie kenne das und da müsse sie mir noch was sagen, sagt sie, und wir verabreden uns abends auf einen Drink. Sie erzählt, dass es sie einmal geschmissen hat, auf einer Treppe, wenn ich mich recht erinnere, und sie dann die gleichen Probleme hatte. Obwohl man ihr nicht das geringste anmerkt. Sie erzählt dann von einer neuen Operationsmethode, sakrale Neuromodulation, in Murnau habe man ihr was eingebaut, dass sie sozusagen auf Knopfdruck die Blase und den Darm dazu bringen könne, den Inhalt freizugeben. Praktisch. Der Befehl an die Nerven geht von einer Art Fernbedienung aus, wenn die nur mal kein Unbefugter in die Hände kriegt, sage ich. Der eigentliche Impuls gehe dann von einem Kästchen aus, das man ihr unter die Haut eingepflanzt habe. Klingt nicht schlecht, allerdings habe ich schon vor Jahren beschlossen, alles so zu lassen wie es ist. Immer wieder kommen ja Leute daher und meinen, ob ich das oder das schon probiert hätte. Mir reichts allerdings, ich hab genug probiert. Ergebnis Null. Lisa hat schon sämtliche Adressen und Telefonnummern für mich vorbereitet. Ich überlegs mir noch, sage ich.

Lisa ist schlank und schaut gut aus. Nebenbei erzählt sie von einem Typen am Frühstückstisch: „dein Parfüm macht mich rasend“ und „du bist genau mein Typ“ habe er zu ihr gesagt. Professionelle Anmache. Nett, muss ich mir merken. Er braungebrannter Playboytyp, Kurprofi, Lisa findet das lustig, er scheint aber nicht wirklich ihr Typ zu sein. Anmache in der Kurklinik. Kurschatten. Schon lange möchte ich wissen was da wirklich läuft. Manche sagen, mehr als man denkt.

 

Einer sagt er bewundert mich. Leider hab ich nicht aufgeschrieben wofür. So bleibt unklar warum oder für was er mich bewunderte. Jedenfalls war das im Gymnastikraum. Stehtraining wie Mausefalle, Treten geht schon besser.

 

Auf der Nachbarliege behandelt eine ziemlich hübsche Therapeutin einen Patienten. Er liegt nur da mit geschlossenen Augen und sie drückt irgendwelche Punkte im Gesicht und am Kopf. Das würde mir auch gefallen. Drum frage ich, als sie fertig ist, freundlich ob ich das bei ihr auch mal kriegen könnte. Leider nein, geht nicht, weil die Therapeuten alle für bestimmte Patienten zuständig sind. Schade. Die Therapeutin fällt mir dann noch öfter auf, gute Figur, sympathisch, immer geschmackvoll angezogen. Ich überlege mir, ob ich ihr, wenn ich entlassen werde, schreiben soll, anonym natürlich, dass ein wesentlicher Teil meines Rehaerfolgs ihrem Anblick zuzuschreiben ist. Ich schreib es dann aber doch nicht.

 

Fango hab ich auch heute. Im Wartebereich eine Infotafel über Heubäder an der Wand. Wie man darauf gekommen ist. Die Allgäuer Bauern hätten sich nach der Arbeit ins Heu gelegt und gemerkt wie gut das tut. Kaum zu glauben. Und so kamen Heubäder für die Sommerfrischler auf. Nur dass die Preissn nicht zuvor 10 Stunden mit der Sense arbeiten. Aber gut tut es, das ist klar.

 

Im Gymnastikraum gibt’s immer was zu schauen. Wenn ich Pause mache bei meinen Übungen am Stehbarren oder auf einer Matte. Die Physiotherapeutinnen schauen in der Regel gar nicht mal so schlecht aus.

 

8.9. (Donnerstag)

Vortrag Ernährungsberatung. Viele warten, es kommt aber niemand. Schon eine Viertelstunde. Gerade als ich gehen will, kommt doch noch die Referentin. Ernährungsberaterinnen sind ja meistens selber nicht die Schlanksten, nach dem Motto, der Wegweiser geht den Weg nicht selber, aber die hier kommt ist dünn, wie mir gleich auffällt.

Schön dass sie da sind, meint sie zur Begrüßung. Sie auch, auch wenn’s eine Viertelstunde zu spät ist, denke ich mir. Der Vortrag dann ist sehr interessant, auch wenn ich mir überhaupt nichts merken kann. Was bei mir auch nicht so wichtig ist. 74 kg für einen Rollstuhlfahrer, 59 Jahre alt, im aufgerichteten Zustand 1,75 Meter groß, da kann man nichts sagen, das geht. Aber Vorträge in Rehakliniken sind sowieso eher ein netter Zeitvertreib. Eine Art Animation. Wie beschäftigt man Patienten sinnvoll über vier Wochen? Zweifelsohne gar nicht so einfach. Und so vergeht auch eine Stunde.

Die sympathische Therapeutin mit der guten Figur und der geschmackvollen Kleidung hat heute ein Leiwerl an, das ihr besonders gut steht. Im Vorbeigehen sage ich ihr dass sie atemberaubend aussieht mit dem Teil. Da klar ist, dass meine Worte auf reiner Bewunderung gründen, absichtsfrei und zweckfrei, freut sie sich und legt mir kurz die Hand auf die Schulter. Wie schön.

Hanni beim Mittagessen. Bis jetzt hab ich sie nur als angenehme Person kennengelernt, aber als sie Mittag kein, ich weiß nicht mehr was, sondern nur Spargel kriegen soll, wird sie zickig. Hätte ich ihr gar nicht zugetraut. Das gebe es doch nicht, dass jemand in so einem großen Haus nicht eine Portion von dem ich weiß nicht mehr was kriegen könne, meint sie, jedenfalls sei jetzt keine Spargelzeit und da sehe sie auch nicht ein, dass sie welchen essen sollte. Richtig zickig. Die Dame vom Service tat mir schon leid. Die kann ja am wenigsten dafür. Die bringt halt das was auf der Liste steht. Schließlich bekam sie doch noch ihr irgendwas und es ging wieder. Aber so sind sie die Weiber, denke ich mir. Verschiedene Anlässe, verschiedene Gesichter.

Dann erzählt sie von ihrer Zimmergenossin, die in der Nacht immer Panikattacken kriegt, es im Bett nicht mehr aushält und dann am Gang rumläuft. Und das jede Nacht.

 

9.9. (Freitag)

Rosshaupten – Rieden mit dem Rad. Heute richtig gefahren, schön, viel Wald. Auf einem Bankerl sitze ich lang in der Sonne. Am Forggensee entlang über Rieden fahre ich zurück.

Am Nachmittag kommt eine alte Freundin zu Besuch. Mit dem Zug ist sie angereist. Quartier hab ich schon besorgt. Hotel Christine. Gar nicht so einfach, um die Zeit was zu kriegen. In Füssen ist wirklich ein ganz schöner Rummel. Aber ich hatte Glück. Ich erfahre, dass der Pensionsbesitzer, Herr Ruppert heißt er, in Reichenhall in der Hotelfachschule war. Das Zimmer ist hell und freundlich.

 

10.9. (Samstag)

Das Wetter ist gut. Da ist ein Ausflug mit der Seilbahn zum Tegelberg gerade recht. Der Berg der Drachenflieger und Gleitschirmspringer. Eine Weile schauen wir beim Starten zu, aber das ist auch immer dasselbe. Auf einer Bank sitzen wir dann lange in der warmen Sonne. Sie geht noch auf einen Gipfel in der Nähe. Den Namen weiß ich nicht, jedenfalls steht ein großes Kreuz oben und es ist nicht weit. Ich sag, sie soll da für mich hochgehen. Genau über dem Gipfelkreuz steht eine schöne große Wolke, was natürlich nichts zu bedeuten hat.

 

11.9. (Sonntag)

Das Wetter ist wieder gut. Schifferlfahren über den Forggensee ist mal was anderes. Gereicht auch zur Kurzweil. Der See sieht aus als ob er immer da gewesen wäre, passt optimal in die Landschaft, aber es ist ein Stausee aus den 50er Jahren. Nicht weit von ihrem Hotel fährt das Schiff ab. Wir sitzen oben und haben eine schöne Aussicht. Am Nachmittag muss sie abreisen.

Abends gelesen: Ein asketischer Aspekt der Todesangst von Hoimar von Ditfurth. Was der schreibt ist wahrlich Nahrung fürs Gehirn. Worum geht’s? Wenn ich mich recht erinnere: der Mensch erstrebt alles was notwendig ist. Essen, Trinken usw. Davor haben wir keine Angst. Der Tod ist auch notwendig, sonst gäb´s keine Fortentwicklung der Menschheit, keine Evolution. Nur davor haben wir Angst? Meiden ihn. Warum eigentlich? Angst hab ich nicht aber zum Sterben hätte ich im Moment überhaupt keine Lust.

 

12.9. (Montag)

Kenzenhütte. Nach dem Essen. Ich war ja schon mal oben, plagte mich elendig vor ein paar Jahren. Heute geht’s viel besser, unter 2 Stunden bin ich oben. Als ich ein Weißbier (alkoholfrei) trinke, unterhalten sich zwei Preissn über einen, der sie beim Aufstieg überholt hat: „hat ausgesehen wie Gevatter Tod und dann zieht der den Hang hoch wie ne Jemse“. Schön gesagt. Muss ich mir merken. Runter fahre ich eine Variante durchs Lobental.

Auf einer großen Wiese unterhalb der Hütte, Wanker Fleck genannt, ist die Abzweigung.

Ich erinnere mich: Ich war 15 Jahre alt. Da fuhr die Klettergruppe des Karlsgymnasiums mal hierher. Eine Verschneidung am Geiselstein wurde geklettert, Süd oder Ost, ich kann es nicht mehr sagen. Egal. Besonders schwer kann es aber nicht gewesen sein, sonst wärn wir damals nicht hinaufgekommen. Am zweiten Tag war das Wetter nicht besonders und wir wanderten auf einen Gipfel in der Nähe. Beim Abstieg kamen wir beim Wanker Fleck vorbei. Es war Herbst, später Nachmittag und die Hirschbrunft gerade voll im Gang. Die Wiese schien den Hirschen für ihre Brunftgeschäfte gerade recht. Das Röhren ganz in der Nähe eine urige Angelegenheit. Was ich nie vergesse: Als wieder einer ganz in der Nähe schrie, meinte ein Kamerad namens Gerd, dass man so einen Hirschen bei der Begattung mal so richtig erschrecken müsste, dann würde es ihm vergehen, das wäre ein Spaß. Alle lachten, ich auch, obwohl ich, wie ich heute gestehen muss, damals noch nicht recht wusste, was es damit genau auf sich hatte. Aber heute noch sind mir die Stimmung auf der dämmrigen Wiese und die Worte des ein paar Jahre älteren Kameraden gegenwärtig. Sonst weiß ich nichts von der ganzen Tour. Die damals dabei waren: Der Lehrer, der den Kletterausflug veranstaltete, stürzte im Gesäuse tödlich ab. Nachdem er am Tag zuvor, am Bergsteigerfriedhof Jonsbach, wo die Namen der abgestürzten Kletterer auf Metalltafeln eingraviert werden, bemerkt hatte, dass der letzte Eintrag schon ganz schön lang her ist. Ein anderer starb an Krebs. Von uns damaligen Schülern machte einer, Thomas hieß er, seinem Leben noch in jungen Jahren selbst ein Ende. Einer wurde Arzt, ein anderer Geologe. Einer ist querschnittgelähmt und der fährt jetzt hier mit einem Handrad rum. Wenn das nicht komisch ist.

 

Zuerst suche ich die Abzweigung ins Lobental an der falschen Stelle und fahre auf einer Wiese mit ziemlich viel Kuhdreck rum. Schließlich bin ich richtig und es gibt keine Probleme mehr. Einige Gegenanstiege warten noch in der gänzlich einsamen Waldlandschaft, oberhalb leuchten Kalkfelsen in der Nachmittagssonne. Schließlich an einem Bach entlang nur noch bergab bis zum Auto. Herrlich.

 

13.9. (Dienstag)

Beim Frühstück sagt Julia, dass ich eine gute Figur habe, sehr gut aussehe und auch sonst sehr sympathisch sei. So was hört man gern, die Dame hat Geschmack.

Julia muss heim, Hanni weiß es noch nicht, wie lang sie dableiben darf.

Eine neue sitzt auch da, Gabi, am Anfang etwas verstockt, was sich aber bald gibt.

Wollte ins Retterschwanger Tal, aber Oberjoch ab heute gesperrt, komplett, für Wochen. Erst glaub ich’s wieder mal nicht, aber man kommt wirklich nicht durch. Ein langer Umweg wäre nötig, da fällt mir anderes Ziel ein: Petersbergalm über Hinterhornbach im Lechtal. Also nichts wie rüber. Es ist nicht weit. Durchs Tannheimer Tal und runter ins Lechtal. In Hinterhornbach am Parkplatz wo ich losfahre, entdecke ich im Wirtshaus nebenan tatsächlich einen anderen Handbiker, ein Tiroler, schon etwas älter, mit E-Bike unterwegs, ein netter Mensch. Wunderbares Tal, auf der Alm Einkehr, dann wieder zurück, auch eine schöne Tour.

 

14.9. (Mittwoch)

Heute kann ich erst später. Warum? Wahrscheinlich irgendeine doofe Anwendung, die ich nicht ausfallen lassen konnte. Erst um 4 Uhr komme ich in Schwangau los. Eine wunderbare Strecke, fast immer auf Radlwegen weit abseits der Straßen. Ein Foto von einem niedlichen Keiwe mache ich. Bei der Wieskirche kurze Pause, ein Apfelsaftschorle, dann geht’s wieder auf gleichem Weg zurück, tendenziell bergab, um 7 komme ich wieder zum Auto. Wieder so eine schöne Tour!

Was ist noch erwähnenswert? Als ich nach Schwangau fahre, geht einer

betont langsam über die Straße, sodass ich, obwohl ich eh ganz langsam fahre, bremsen muss. Vermutlich Türke, oder so was ähnliches, gebräunter gestylter Oberkörper, scheint regelmäßig ins Studie zu gehen, frisst vermutlich Proteine, so wie er aussieht, ein aufgeblasener Depp. Als ich vorbei bin, geh ich noch mal vom Gas und zeige ihm den Scheibenwischer, was ihn offensichtlich sehr erbost. Er setzt kurz zum Spurt an, was natürlich sinnlos ist und macht auch unmissverständliche Zeichen. Erwischen dürfte er mich jetzt nicht.

In den nächsten Tagen habe ich gewisse Bedenken, dass der Typ sich mein Autokennzeichen gemerkt hat und irgendwo mein Auto stehen sieht. Der Lackschaden wäre wohl ein größerer gewesen.

Wenn es der letzte Tag gewesen wäre hätte ich ihm nicht nur den Scheibenwischer gezeigt, sondern die nette Geste mit dem Mittelfinger, den Arm durchs offene Fenster gestreckt, die ganze lange Straße, bis er mich nicht mehr gesehen hätte. Primitiv, aber gefreut hätt´s mich trotzdem.

 

15.9. (Donnerstag)

Cabrioausflug. Lisa hat es vermittelt, der Fahrer heißt Franz und ist Zahnarzt. Er hat ein VW-Beetle Cabrio und eine rechte Freude damit, wie man gleich merkt. Er macht das Dach runter und wir fahren rund um den Forggensee. Abends treffen wir uns noch mal in der Cafeteria, Lisa, Franz und ich. Franz trinkt vier Weißbier und ¼ Wein, nicht gerade wenig. Und das in ziemlich kurzer Zeit. Fällt nicht weiter auf. Mir schon. Die Menschheit säuft ja in einem Ausmaß, dass sich das kaum jemand vorstellen kann. Das Thema wiederum ist nicht uninteressant. Es geht um´s Sterben dürfen, wenn die Zeit gekommen ist. Wenn ein Arzt in der Nähe ist und der nichts dagegen unternimmt, macht er sich strafbar. Also wenn ein Mensch, der schon lang leidet, das Leben schon lang kein Leben mehr ist, ohne Aussicht, dass es noch mal was wird, wenn der dann endlich gehen dürfte, wird er von der Medizin mit jedem erdenklichen Aufwand daran gehindert, auch gegen seinen Willen. Da werden keine Mühen und Kosten gescheut, dass das Leiden und die Qualen verlängert werden. Franz meint dass das nichts anderes als Folter ist. Das gefällt mir, wenn ein Arzt so was sagt. Meine Vermutung, dass der Medizinbetrieb niemand gehen lassen will, weil dann einer weniger ist, an dem die abrechenbaren Leistungen vorgenommen werden können, behalte ich lieber für mich.

Und wenn es zu Ende gegangen ist, kommen noch die Bestattungsunternehmen, was nicht viel besser ist. Die letzten Wochen und das aus der Welt gehen, das geht noch mal so richtig ins Geld. Viele leben vielleicht nur noch, weil sie sich den Abgang nicht leisten können. Franz, wegen was er da ist, weiß ich nicht mehr, meint noch, dass er die Anwendungen von drei Wochen auch in drei Tagen hätte erledigen können. Und das daheim. Wenn er dann noch zwei Wochen nach Gran Canaria gefahren wäre, hätte er mehr davon gehabt. Zum Glück habe er sein Cabrio dabei. Es liegt mir fern, ihm zu widersprechen.

 

16.9. (Freitag)

Wieder mit dem Radl. Rund um den Forggensee fahre ich. Wetter soll schlecht werden, aber ich komm trocken rum. Traumhafte Tour. Danach genehmige ich mir noch ein Weißbier (alkoholfrei) und eine Pizza auf der Seeterrasse am Hopfensee, schmeckt gut, aber nicht ganz billig. Am Hopfensee ist nichts ganz billig. Egal. Das letzte Hemd hat keine Taschen. Am Abend Drink mit Lisa in der Cafeteria.

 

17.9. (Samstag)

Bald drei Wochen sind um. Obwohl ich mit dem Gewand gespart habe, gehen die frischen Unterhosen und auch die Unterhemden doch schön langsam aus. Wenn ich auch noch eine Woche Verlängerung kriege muss ich auf jeden Fall einmal waschen. So kauf ich am Nachmittag eine Packung Waschtabletten oder –Tabs. Ich gehe genau nach Gebrauchsanleitung vor, lege die Kapsel zur Wäsche, aber kaum ist die Maschine an, wandert die Kapsel ans Guckloch und dreht sich weit abseits der Wäsche dort mit der Trommel im Kreis, ohne sich aufzulösen. Sinnlos, da wird nix sauber. Schweinerei. Ich sehe dem Ding hinter der Scheibe noch ziemlich lang zu, kann es aber nicht ändern. Der Waschgang war für die Katz, also das ganze nochmal. Ich gebe die Tablette in einen Socken, so geht’s besser. Aber wieder ist die Frage ob sich das Ding in der Socke auflöst. Im Nachhinein kann gesagt werden: Ja. Aber das Wahre sind die Waschtabs nicht, als Hausmann lernt man nie aus.

Den Trockner betätige ich auch noch. Als ich meine Wäsche einlege, finde ich zwei Unterhosen, die mein Vorgänger, eher Vorgängerin, vergessen hat. Die Teile würden einem jungen Elefanten passen. Weil ich nicht weiss, wie sich meine Figur noch entwickelt, nehm ich sie vorsichtshalber mal mit.

Beim Abendessen berichte ich den anwesenden Damen von meinem Wascherlebnis, ein schönes Thema. Jede weiß was dazu.

 

18.9. (Sonntag)

Fuhr mit dem Rad Hopfensee – Weissensee – Alatsee – Vilser Alp – Lendenweg. Schöne Tour. Vom Weissensee zum Alatsee geht’s etwas hinauf, dann drüben runter nach Vils. Einen kleinen Regenschauer warte ich unter einem Vordach ab, als es aufhört, fahre ich weiter und weil’s so schön ist auch noch zur Vilser Alp hinauf. Mitpatientin Renate hatte erzählt dass es da schön zum Radeln sei. Stimmt, aber ganz schön weit ists auch. Oben kehr ich ein. Dann zurück. Zwischen Vils und Füssen ist auf der Karte ein Weg eingezeichnet. Den will ich fahren. Am Fluss entlang ists immer am schönsten. Leider geht das Sträßchen in einen Weg über, der immer schlechter, schließlich ganz schlecht wird. Ich bin schon so weit, dass ich zurück auch nicht mehr fahren will. Noch dazu weil es zum regnen angefangen hat. Eine grobschotterige Steigung ist unfahrbar, so muss ich schieben, was grundsätzlich das allerletzte ist. Ein Querschnittgelähmter, der sein Rad schiebt. Die Grenze vom Erhabenen zum Lächerlichen ist fließend.

Der schlechte Weg zieht sich, Mist! Irgendwann komm ich doch in Füssen raus, nass dreckig und ziemlich fertig. Da fahr ich nie wieder.

 

Beim Abendessen erzählt Gabi von ihrer Arbeit in einem Heim für Autisten. Manchmal denke ich mir ob ich nicht auch sowas bin. Ausnahmsweise oute auch ich mich, womit ich mein Geld verdiene. Wir unterhalten uns dann noch über Sinn und Unsinn von Rehakliniken, mein Lieblingsthema. Was fehlte ihr eigentlich? Ich denke es war was mit der Schulter. Ihr Doktor habe jedenfalls gesagt, dass er sie öfters krankschreiben müsse, „sonst kriegen wir keine Reha“. Genau so ist es: Ob man das kriegt oder nicht hängt weniger von den Beschwerden ab, als vielmehr dass der Doktor das richtige in den Antrag schreibt und dass man vorher möglichst viel krank ist (oder macht). Der immer fleißig in die Arbeit geht, auch wenn ihm was weh tut, der ist der Dumme, eigentlich ein perverses System. Sie wollte eigentlich gar nicht auf Reha, habe lieber ihre Ruhe, als viele Menschen um sich und das typische Rehapublikum schon gar nicht. Versteh ich gut. Aber die Schulter machte wohl doch länger Probleme, und wenn ein Hausarzt nicht mehr weiter weiß, rät er eben mal zur Kur. Wobei bei vielen wohl die Ortsveränderung der wesentliche Wirkfaktor für eventuelle Besserungen ist.

 

„Wenn eine Medizin nicht schadet, soll man froh sein und nicht obendrein noch verlangen, dass sie etwas nütze“, hat mal einer gesagt. Ich sehe das auch so. Vernünftig Essen, nicht Rauchen, nicht zuviel Saufen und viel Bewegung. Das wärs. Dann könnten 50% der deutschen Ärzteschaft bedenkenlos und sofort in Pension geschickt werden. 485 000 Ärzte gibt’s ungefähr in Deutschland. Natürlich richtet sich die Zahl der Kranken auch nach den Ärzten, logisch. Im Medizinbetrieb reguliert nicht die Nachfrage das Angebot, sondern das Angebot die Nachfrage. Ein weites Feld. Genug damit. Nur eins noch: Der medizinische Fortschritt wächst rasant - und mit ihm der Krankenstand.

Egal, ich bin ja auch da, obwohl der medizinische Sinn fraglich ist. Aber mit Querschnittslähmung brauche ich wohl kein besonders schlechtes Gewissen zu haben deswegen.

 

19.9. (Montag)

Beim Frühstück kommen wir drauf zu sprechen wer welches Auto hat. Gabi hat einen Mercedes B-Klasse. Was ich für einen hätte: „einen Porsche natürlich“, sag ich. Haha kommt von allen Seiten, einen Spielzeugporsche vielleicht. Nicht einmal Gabi glaubt es. Wir kommen dann aber schnell auf ein anderes Thema, die Aussage ist ja wirklich wenig glaubwürdig. Drei Wochen trinke ich jetzt fast nur alkoholfreies Weißbier. Das geht auf den Magen. Vorsichtshalber kaufe ich mir ein Fläschchen Jägermeister und nehme den in winzigen Schlucken nach den Mahlzeiten ein. Vorsichtshalber. Prophylaktisch.

 

20.9. (Dienstag)

Steffen, Rollifahrer aus Dresden kennengelernt. Hat ein Handrad dabei. Ein E-Handbike. Kennt Veit Riffer. Sturz beim Skifahren in Hintertux, schon lange her, seitdem Rentner. Die AOK habe sein E-Handbike bezahlt, bezahlen müssen, es gäbe da ein Präzedenzurteil. Man müsse angeben, dass man Schulterprobleme habe und deswegen anders nicht fahren könne. Immer interessant, wenn man Menschen trifft, die sich auskennen, wie man zu was kommt. Ich bin da etwas unbedarft. Und nirgendwo kann man mehr über so was lernen wie von den Krankheitsprofis, die man in Rehakliniken trifft. Gerade auch was die Rente betrifft. Reha vor Rente, durch Reha wird angeblich Verrentung vermieden, aber nirgendwo bekommt man wertvollere Informationen, wie man vorgehen muss, wenn man auf Rente aus ist als in Rehakliniken. Ein fauler Apfel steckt die ganze Kiste an, heißt es. Die Carbonfelgen von seinem Rolli hätten 1500.- Euro gekostet. Unbedingt braucht man so was nicht. Aber wenn man es nicht selber bezahlen muss, warum nicht?

Bei der Visite deutet man an, dass man mir eine Verlängerung geben möchte. Ob ich was dagegen hätte? Dreimal dürfen sie raten. Nächste Woche werde man es mir genau sagen.

Spätestens jetzt haben sie anscheinend bemerkt dass es sich bei mir um einen Traumpatienten handelt, wie man selten einen findet. Keine Depressionen, Ängste oder so Psychomist, was heute fast jeder Patient hat, zumindest steht in den Leitlinien, dass man es haben sollte. Nichts was mir nicht passt, das Essen schmeckt mir, ich schlafe bestens. Eine Perle unter den Patienten. Kein Wunder dass sie mich verlängern wollen.

 

21.9. (Mittwoch)

Ich fahre nochmal die Vilstalrunde.

Das Wetter ist bedeckt, aber keine Regenneigung. Ich war ja vor ein paar Tagen schon mal da. Egal. Die Landschaft ist traumhaft. Auf einer Wiese neben dem Weg liegt ein toter Hirsch. Vom Vilsalpsee herunter ist Almabtrieb. Eine besondere Attraktion. Hunderte Rindviecher.

Die Alm hinten am See ist wegen dem Abtrieb geschlossen, kein Mensch da, aber ich hab Reste vom Frühstück eingepackt, sodass ich keinen Mangel leiden muss. Göttliche Ruhe. Sonne. Berge. Was will man mehr. Dann fahre ich zurück. In Tannheim tausend Preissn, der Almabtrieb ein Event, überall Keiwen, alles verschissen. Zurück nach Pfronten geht’s dann fast nur bergab. Eine gelungene Tour.

 

22.9. (Donnerstag)

Im Gymnastikraum wird eine alte Dicke behandelt, einzeln, vom Therapeuten. Der Termin dauert 20 Minuten und 20 Minuten redet die durch mit einer Stimme die nach quak quak quak klingt, monoton, in einer Lautstärke wo bei mir, der nicht auskann, weil ich am Stehtrainingsgerät festgezurrt bin, nicht einmal Ohren zuhalten hilft. Da müsste man das Mundwerk extra derschlagn, sagt man in Bayern.

Am Nachmittag fahr ich eine kleine Tour zum Faulensee. Abends auf der Bank beim Wildstand-Parkplatz. Die Aussicht ist schön aber es ist ziemlich kalt.

 

23.9. (Freitag)

Beim MTT unangenehm aufgefallen. Ich war zu früh dort, ohne es am Plan stehen zu haben. Um am Nachmittag eher frei zu haben. Und das fiel einer auf. Zeigen sie mir mal ihr Buch, strenger Ton – auweh – verlassen sie sofort den Raum, sagt sie mit strenger Stimme. So braucht sie sich auch nicht anzustellen, aber genaugenommen hat sie recht. Eine Gelegenheit mich in Gelassenheit zu üben. Ich mache mir dann noch meine Gedanken. Wenn das alle machen würden, es wäre das Ende jeder Ordnung. Nur dass die anderen hier eben sonst nichts zu tun haben. Es ist eine Frage der Kosten-Nutzen Bilanz. In dem Fall:

Wenn eine Person (ich) mehr ist in dem Trainingsraum, muss irgendwer – wenn überhaupt – vielleicht kurz auf ein Gerät warten, das sonst frei wäre. Das sind die Kosten. Dass ich dafür am Nachmittag frei habe und mit meinem geliebten Radl starten kann, das ist der Nutzen. Die Bilanz? Der Nutzen überwiegt eindeutig. Die Radtour am Nachmittag Seeg – Unterreuthen – Oberreuthen – Dederles – Atlessee – Kögelweiher – Zell – Weissensee – Hopfensee möchte ich auf keinen Fall missen. Traumhafte Landschaft. Vier Stunden war ich unterwegs. Hätte ich mich an den Plan gehalten, hätte ich am Nachmittag zwei Stunden nichts zu tun gehabt, dann die eine Stunde Kraftraum, dann wieder zwei Stunden nichts bis zum Abendessen. Indiskutabel!

Beim Abendessen sitzt ein neuer da, Karl Heinz. Ingenieur bei Airbus. Ein Schlagei hat ihn gestreift, aber er hat Glück gehabt. Aber irgendwie scheint es ihn doch erschüttert zu haben, den Eindruck habe ich zumindest. Mir gegenüber sitzt Sigi, der schon länger da ist. Zivilangestellter beim Bund. Ein netter Mensch, hat nicht mehr weit zur Rente.

 

24.9. (Samstag)

Retterschwanger Tal. Hintere Entschenalpe. Wolkenloses Wetter. Traumhafte Tour!

 

25.9. (Sonntag)

Füssen – Musau – Wängle – Weissenbach – Ehenbichl – Reutte – Pflach – Pinswang – Alpsee. Ich dachte ich müsste müde sein von gestern, war es aber nicht. Schon wieder so eine Traumtour! Von Pinswang zum Alpseee hoch überholte mich eine Ebike-Fahrerin mit einem Hintern, dass sich die Sonne verdunkelte. Die fuhr hoch, dass der Kies spritzte. Hernach bei Renate eingekehrt. Ich bekam ein Weißbier und einen Kuchen spendiert. Das vergess ich ihr nie.

 

26.9. (Montag)

Am Trettrainingsgerät sitzt neben mir eine Oma. „Des quitscht“, sagt sie „des g´hört g´schmiert“. Sie erzählt dann noch, dass im Krankenhaus, wo sie gelegen sei, ein Schubladen gequitscht habe, den habe sie mit Massageöl geschmiert. „Was für mich gut is, is für des Schubladl erst recht gut“ meint sie. Die Oma ist echt lustig.

Am Nachmittag Sonnen am Hopfensee. Einen Fruchteisbecher nehme ich ein. Abends Modenschau in der Cafeteria. Na ja, Geschmackssache die Teile. Angelina Jolly und Brad Pitt trennen sich, steht in der Bild. Vielleicht hätte sie ihren Busen doch so lassen sollen wie er war. Außerdem hat Mehmed Özil einen Strafzettel über 185 000.- Eur gekriegt, mit seinem Mercedes, der 260 000.- gekostet hat. Steht auch in der Bild.

Am Nachmittag kleine Radtour Hopfen – Klinik – Faulensee – Wildstand.

Den Berg zur Klinik hoch wollte ich unbedingt auch einmal gefahren sein.

 

27.9. (Dienstag)

In Bad Hindelang Urte und Freundin Sabine besucht. Die zwei Nordlichter. Wanderurlaub. Zeigen mir ihr Quartier, Ferienwohnung, wirklich nett. Urte musste natürlich erst die Schränke von einer Ecke in die andere räumen, bis es für sie passte. Im Moment wenig innere Ruhe, die Frau. Wir machen eine ordentliche Brotzeit und der Wein geht auch ganz gut weg.

 

28.9. (Mittwoch)

Am Vormittag ziemlich müde. Am Nachmittag mit Rad Hopfen – Klinik – Rieden – Faulensee – Wildstand. Nette kleine Runde die mir noch abging.

 

29.9. (Donnerstag)

Mittag los zu einem großen Ziel. Der Grünten, besser gesagt die Grüntenhütte. Ganz hoch kommt man nicht mit Handrad. Ein Asphaltsträßchen führt bis zur Hütte. Im Internet hatte ich den Bericht eines einheimischen Handbikers gelesen. Soll ziemlich steil und lang sein. Eine nette Herausforderung am Ende der Kur. Ein schönes Stück fahre ich hoch bis ich zum ersten mal stehen bleibe. Und dann gehts eigentlich recht zügig weiter. An ein paar Almen komme ich vorbei. Ich glaube, dass es nicht mehr weit ist, aber da täusche ich mich. Und oben wird es erst richtig steil. Aber in der bewährten Salamitaktik, Stück für Stück komme ich hoch. Ein paar Passagen sind wirklich steil, aber die Arme halten sich heute erfreulich gut. Am Grat die Hütte. Ich halte Einkehr, im Süden Blick auf die Allgäuer Berge, im Norden viel Grün und Hügel. Ich freue mich, dass die Sache so gut geklappt hat. Abfahrt geht glatt. Bald bin ich wieder beim Auto und besuche noch Urte und Sabine auf ein Abschiedsachterl. Sie waren auch Wandern und Urte schmiss es natürlich beim Runtergehen über eine Almwiese aufs Steißbein. Selten dass es Urte auf einer Almwiese nicht schmeisst. Um halb 8 fahr ich zurück.

 

30.9. (Freitag)

 

1.10. (Samstag)

Ausflug zur Petersbergalm. Mit dem Radl. Wetter bewölkt, genau als ich zur Wiese im Talschluss komme reißt es auf und die Sonne scheint. So kann man lang in der Wiese liegen, bis sich die Wolken wieder verdichten.

Bei der Alm Einkehr dann geht’s wieder zurück. Eine gelungene Tour.

 

2.10. (Sonntag)

Es regnet, Spazierfahrt zum Plansee. Essen in Weissenbach im Lechtal, dann durchs Talheimer Tal zurück. Wieder schön.

 

3.10. (Montag)

Tag der Deutschen Einheit, Feiertag.

Abreise. Paradiesische fünf Wochen sind vorbei. Vielleicht ist das Leben nach dem Tod eine Dauerkur. 

Aber als Patient, nicht als Angestellter, sonst wäre es bestenfalls das Fegefeuer. 

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