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Der Artikel erschien am 13. Juli 2024 im Reichenhaller Tagblatt: "Im Alleingang durch die Südwand und zurück". 

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Dachstein Südwand im Alleingang

Zur Erinnerung an einen unbekannten Reichenhaller Bergsteiger

Christoph Kolb

(1935 – 1997)

 

Weithin bekannt wurde die Aktion von Hermann Buhl, der 1952 von Landeck aus mit dem Radl zum Piz Badile fuhr, im Alleingang die Nordostwand beging und anschließend mit dem Rad wieder heimfuhr. Eine Leistung die kaum weniger beachtlich ist, leistete im gleichen Jahr der gänzlich unbekannte Reichenhaller Christoph Kolb, damals 17 Jahre alt. Der fuhr am Samstagabend mit dem Radl zur Dachstein Südwand und am Sonntag nach Durchsteigung der 800 Meter hohen Wand im Alleingang wieder heim. Eine kaum glaubliche Leistung!

 

Dachstein

Der Hohe Dachstein (2995 m) ist der höchste Gipfel des gleichnamigen Massivs im südlichen Salzkammergut. Ähnlich dem Steinernen Meer weist das Gebirge ein ausgedehntes verkarstetes Hochplateau auf, das in den Hochlagen nordseitig vergletschert ist. Nach Süden bricht der Hauptkamm vom Torstein über den Mitterspitz bis zum Hohen Dachstein in einer kilometerbreiten, bis zu 1000 Meter hohen Wandflucht ab. Im ganzen Massiv erfreuen hunderte von Routen die Herzen der Kletterer. Traurige Bekanntheit erlangte der Dachstein 1954, als im nördlichen Bereich des Hochplateaus bei einem Schulausflug zehn Jugendliche und drei Lehrer ums Leben kamen. Sie erfroren, nachdem sie im Schneesturm die Orientierung verloren hatten („Heilbronner Dachsteinunglück“).

 

Dachstein Südwand

Die Erstbegehung der Wand am 23. September 1909 (!) durch die Brüder Franz und Georg („Irg“) Steiner bedeutet einen Meilenstein in der Klettergeschichte der Ostalpen. Schon der Vater Johann Steiner war ein berühmter Bergführer und Kletterer. Er war Erstbesteiger der schroffen Bischofsmütze im Gosaukamm, einen Anstieg durch die Dachstein Südwand fand er aber wie viele andere Bewerber nicht. Nach dem Tod des Vaters beschlossen die Söhne, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Am Morgen des 23. September 1909 machten sie sich auf den Weg, ausgerüstet lediglich mit einem Hanfseil und einem zwei Meter langen Haselnussstecken, womit Franz den Vorsteiger „Irg“ an schwierigen Stellen jeweils gegen den Fels drücken sollte. Heute selbstverständliche Kletterausrüstung wie Felshaken oder Karabiner besaßen sie nicht einmal. Auch keine Steinschlaghelme, die kamen erst in den 50er Jahren auf.

 

Gut ein Drittel der Wand gingen sie seilfrei, wobei sie bereits Stellen im 4. Schwierigkeitsgrad bewältigten. Schließlich wurde es heikel: Nach oben ging es nicht weiter. Glatter Fels. Unmöglich. Aber die beiden hatten die Wand gut studiert und wussten, dass weiter rechts eine Kaminreihe in Richtung Gipfel zieht. Aber dahin mussten sie erst einmal kommen. Der Weiterweg, eine ausgesetzte Querung, wird heute „Steinerband“ genannt. Auf etwa 50 Meter ist das Band teilweise aufrecht begehbar, teilweise muss man kriechen oder auch hangeln, was bedeutet, dass es für die Füße keine Tritte gibt und man sich an Griffen über die Stelle hinwegschwindeln muss. Darunter hunderte Meter senkrechter Fels.

 

Der Legende nach kam an der schwierigsten Stelle am Ende der Querung auch der Haselnussstecken zum Einsatz. Der Weiterweg führte durch eine Kaminreihe in bestem aber schwierigem Fels. Auch ein Kaminüberhang, der heute mit Schwierigkeitsgrad V+ bewertet wird, hielt die beiden nicht auf. Überliefert ist, dass ein Pfarrer, der mit seinem Bergführer gerade am Gipfel saß, beim Blick hinab in die Südwand meinte „da kemman zwei Teufln auffa“. Und wenig später standen die beiden Brüder auch schon oben und die Freude über die gelungene Erstbegehung war groß. Nur fünf Stunden hatten sie gebraucht. Viele der heutigen Begeher brauchen länger.

 

Die Begehung machte die „Steinerbuam“ sogleich zu Legenden, zu steirischen Volkshelden. Was wurde aus ihnen? Franz Steiner (1884-1965) baute einen florierenden Lodenbetrieb in Mandling auf und wurde sogar Kommerzialrat.

Der „Irg“ (1888-1972) arbeitete zeitweise als Postzusteller, insgesamt aber blieb er Freigeist, Kletterer, Bergführer und Wilderer. Insgesamt gelangen ihm 35 Erstbegehungen. Der Legende nach gab es rund um den Dachstein auch einige Nachkommen, die er im Alter gern aufsuchte und jeweils ein paar Wochen oder auch Monate blieb. Für ihren Einsatz bei zahlreichen Rettungs- und Bergungsaktionen bekamen beide das „Grüne Kreuz“, die höchste Auszeichnung, die es für Bergretter gibt.   

 

Dachstein Südwand im Alleingang

Diese Wand war das Ziel des jungen Reichenhallers. Sein Bericht ist überliefert:

„Schon lange stand der Dachstein mit seinen verlockenden Gipfeln und Wänden auf meinem Fahrtenprogramm. An einem Julisamstag war es nun endlich soweit. Zwar hatte ich an diesem Samstag bis 4 Uhr nachmittags zu arbeiten, was mich aber nicht weiter verdrießen konnte: Der Dachstein war fällig!

Schnell wurde der Rucksack gepackt, er war nicht gerade leicht, als ich ihn aufs Fahrrad schnallte. Über dem Untersberg standen schwarze Gewitterwolken, aber das Radio hatte ja schönes Wetter angesagt. Um 16.30 war ich schon über der Grenze in Schwarzbach und nun ging´s in schnellem Tempo den Walserberg hinunter und auf der Autobahn, die in Österreich auch für Radfahrer offen ist, über Hallein und Golling zum Pass Lueg. Diesen langen und sehr steilen Pass (18-20% Gefälle) muss man eine gute halbe Stunde hinaufschieben, dafür kann man aber jenseits auf der Landstraße herrlich hinuntersausen. Weiter geht es eine schöne Landstraße in einem engen Tal entlang, rechts von mir nimmt ein wildschäumender Bergfluss (die Salzach, d. Verf.) seinen Lauf. Auf der linken Seite türmen sich die von den letzten Sonnenstrahlen vergoldeten Wände des Tennengebirges mit ungeheurer Steilheit himmelwärts. Kurz vor Bischofshofen zweigt die Landstraße ab und windet sich mit vielen Serpentinen in das Ennstal hinauf. Als ich in Hüttau ankam, war es bereits stockfinster, ich beschloss also in einem Gasthaus zu übernachten. Leider konnte ich kein Einbettzimmer auftreiben und musste so ein Zweibettzimmer bezahlen.

Beim ersten Hahnenschrei wachte ich um 3 Uhr prompt auf und war um halb 4 Uhr schon wieder auf der Fahrt. Bis in die Ramsau waren es noch 60 km. Nach 3 Stunden kam ich nun endlich in Schladming in der Steiermark an. Eine ganze Stunde musste ich jetzt noch mein Radl eine 7 km lange, sehr kurvenreiche, sandige Straße hinaufschieben und war schließlich an meinem Zielort in der Ramsau. Sonnenüberflutet lag dieser herrliche Ort vor mir, im Hintergrund die gewaltige Südwand des Dachsteins. Im letzten Bauernhof stellte ich mein Rad ein und hinauf ging´s einen schönen Waldweg über die Austriahütte zur Südwandhütte. Das Tempo, in dem ich diesen Weg hinaufsprang, ließ nichts zu wünschen übrig, ich wollte die Südwand an diesem Tag noch machen und musste Abend wieder nach Hause. Von Ramsau bis Reichenhall sind es ca. 130 km, für einen Heimweg eine ganz schöne Strecke.

Nach einer kurzen Brotzeit stellte ich den Rucksack beim Hüttenwirt ein und machte mich an den Anstieg. Eine gute Stunde muss man noch empor über Schrofen, um über ein steiles Firnfeld zum Einstieg der Steinerroute zu gelangen.

 

Klettern ohne Seilsicherung

Es war Schlag 12 Uhr Mittag, als ich die erste Seillänge, den Einstiegsriss, emporturnte. Ich hatte eine gute Beschreibung bei mir, sogar mit Fotografien, versteigen konnte ich mich also nicht. Der Wirt von der Steinerhütte hatte mir gesagt: „5-6 Stunden brauchst du mindestens, zumal wenn du die Wand nicht kennst.“

Die Südwand ist 800 Meter hoch, der Schwierigkeitsgrad IV, was soviel wie „sehr schwierig“ heißt, für einen Einzelnen ohne Hakensicherung also gerade noch zu gehen. Den Einstiegsriss rechts lassend, kletterte ich zu einem abgesprengten luftigen Felszacken hinauf, an dem man auf der hinteren Seite wieder ein paar Meter hinunterrutschen muss und schließlich auf einem großen steilen Band angelangt. Dieses Band verfolgt man in einer schönen Kletterei bis zu seinem Ende. Bald stand ich unter dem schon von unten gut sichtbaren Riesenüberhang, dem sogenannten „Dachl“, den man aber in einer Kaminreihe auf der linken Seite gut umgehen kann.

 

Zwischen Himmel und Erde

Nach einstündiger Kletterei stand ich auch schon oben auf dem Dachl, laut Beschreibung 3 Stunden. Jetzt kam der schönste Teil dieser Bergtour, das Salzburger Band, mit seiner herrlichen, aber auch schwierigen 5 m langen Hangeltraverse. An prächtigen Griffen querte ich diese sehr luftige Stelle hinüber. So gut dort die Griffe sind, so schlecht ist es aber mit einem Tritt bestellt, ich musste mich diese paar Meter wirklich auf Reibung hinüberschwindeln, auch nicht ein winziger Vorsprung ist in der steilen Platte zu finden. So hing ich zwischen Himmel und Erde, über mir 500 Meter senkrechter Fels, unter mir eine von Wasser überronnene Platte, die 300 m tief abstürzt bis zum Firnfeld am Einstieg. Ein paar Meter querte ich nun noch nach rechts und befand mich dann in der steilen, von dem Steinerkamin herunterkommenden Schlucht, die in ihrer ganzen Länge von feinen Rissen durchzogen ist. Nun gelangt man in einen kaminartigen Spalt, in dem ein großer Steinblock eingeklemmt ist. Dieser Block wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden, denn als ich mich auf dem Klemmblock aufrichtete, gab er nach und sauste polternd 400 Meter in die Tiefe. Mit der linken Hand hatte ich einen guten Griff und zwängte mich also in den Spalt hinein und ließ mich auf den letzten Standplatz hinuntergleiten, der glücklicherweise nur einen Meter entfernt war. Nach diesem kleinen Zwischenfall ging es schnell die Schlucht hinauf, durch Risse und Kamine zum 100 Meter hohen, teilweise nassen Steinerkamin. Am Ende dieser Kaminreihe kommt das schwerste Stück der Steinerroute, ein leicht überhängender, enger Kamin, durch den man sich an winzigen Griffen durchzwängen muss. Ein paar wackelige Haken steckten auch in dem Spalt, in einen hängte ich eine Steigschlinge und zog mich an dieser schnell hinauf. Weiter ging´s die Wand hinauf, bis zu einer kleinen Quelle, die lustig aus einem Spalt herausspringt. Hier traf ich zwei Herren aus Salzburg, die 6 Stunden vor mir eingestiegen waren. Sie waren die Ruhe selbst, man konnte einschlafen, wenn man ihnen zuschaute. Doch waren es ganz nette Kerle, von einem bekam ich sogar eine Tafel Schokolade geschenkt.

 

Dem Gipfel zu

Nun kam der Endspurt. Die Wand legt sich weit zurück und ich kletterte eine brüchige Schlucht schnell hinauf auf den Gipfel. Einen überwältigenden Rundblick hat man von hier aus: Im Norden der sonnenüberflutete, weitausgedehnte Gosaugletscher, im Süden die schneebedeckten Dreitausender der Zentralalpen. Lange konnte ich diesen herrlichen Blick aber leider nicht genießen, nach kurzer Eintragung in das Gipfelbuch ging´s im Laufschritt die Gipfelrinne hinunter, am oberen Rande des Gletschers entlang und über die Hunerscharte zurück zur Südwandhütte. Um halb 8 Uhr abends war ich wieder unten bei meinem Radl in der Ramsau. Von hier aus grüßte ich ihn zum letzten Mal, den stolzen Dachstein mit seiner herrlichen Südwand. Jetzt durfte ich an die 130 km denken, die es bis nach Reichenhall waren. Um 2 Uhr nachts kam ich aber trotzdem, wenn auch sehr müde, daheim an.

Ja, die Dachstein Südwand ist eine herrliche Wand, ihre Durchkletterung eine klassische Felsfahrt von großer Schönheit, der Gesamteindruck gewaltig, wer sie einmal geschaut, vergisst den Anblick nie. Einer der bedeutendsten Tage in meinem jungen Bergsteigerleben war zu Ende.“

 

Dem aufmerksamen Leser mag aufgefallen sein, dass der junge Kolb nicht über das „Steinerband“ (wie die Erstbegeher), sondern über das „Salzburgerband“ zu der weiterführenden Kaminreihe kletterte. Diese etwas leichter zu begehende Variante fand der Zweitbegeher der Wand, ein Salzburger Alleingänger, im Jahr 1910. In Unkenntnis der Route war er 40 Meter tiefer nach rechts gequert.

 

Die Dachstein Südwand heute

Der Steinerweg ist eine der klassischen Routen der Ostalpen, die jeder rechtschaffene Kletterer in seinem Tourenbuch stehen haben sollte. Eine Ideallinie in bestem Fels durch eine große Wand auf einen stolzen Gipfel. In der früheren Führerliteratur mit Schwierigkeitsgrad IV bewertet, wurde sie neuerdings aus unbekannten Gründen auf V- (Stelle V+) aufgewertet. An den Standplätzen stecken solide Bohrhaken. Der Zeitaufwand wird mit 7-10 Stunden angegeben. Anders als früher fährt man heute mit der Seilbahn von der Hunerscharte ins Tal.

 

Anfahrt Samstagabend mit dem Fahrrad und Heimfahrt auf die gleiche Weise am Sonntag nach der Alleinbegehung der Wand: Der Bericht ermöglicht einen Eindruck, welche Strapazen Kletterer auf sich nahmen, um zu den Wänden und Gipfeln ihrer Sehnsucht zu gelangen. Und am Montag in der Früh stand Christoph Kolb wieder an seinem Arbeitsplatz.

Ein berufsbedingter Ortswechsel in eine gebirgsferne Stadt beendete wenig später die Bergsteigerlaufbahn des Christoph Kolb, von dem man sonst sicher noch einiges gehört hätte.

 

 

Dank

an Frau Irmgard Kamml (geb. Kolb), Jettenberg, für die Überlassung des Tourenberichts ihres Bruders.

 

 

Bildtexte:

1.  Die Hochgipfel des Dachstein-Massivs: Torstein, Mitterspitz und Hoher Dachstein (2995 m) mit seiner 850 Meter hohen Südwand

(Bild. M. Dufek in Wikipedia auf Deutsch; cc-by-sa 3.0/de)

 

2.  Dachstein-Massiv von Norden vom Trattberg aus 

(Bild: Albert Hirschbichler)

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