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Der Beitrag erschien im Jahresheft vom Hospizverein Berchtesgadener Land 2022

 

Der Sturz

Von Albert Hirschbichler

 

Die Katastrophe

Ein verlängertes Wochenende Ende Mai 1997. Wie an den meisten verlängerten Wochenenden damals war klar wo es hinging: zum Gardasee, dem Mekka der Kletterer und Mountainbiker. Beides betrieb ich damals leidenschaftlich. Ein Missverständnis mit dem Sichernden führt zum freien Fall über 30 Meter an einer Kletterwand bei Arco. Nach dem Wiedereinsetzen der Atmung, die zunächst ausgefallen war, sitze ich bei klarem Bewusstsein unter den Felsen. Meine Vorstellung war eigentlich, nach einer Pause langsam zum Campingplatz abzusteigen und mich dort weiter zu erholen. Es kam anders.

 

Unfallklinik

Nach einiger Zeit kommt ein Hubschrauber, der aber nicht landen kann. So transportiert man mich auf einer Trage zum Rettungswagen und weiter ins Krankenhaus nach Trient. Da meine Verletzungen zu schwerwiegend sind, geht es gleich mit dem Hubschrauber weiter nach Bozen. Dort erste Operation. Einige Tage später Hubschraubertransport nach Murnau. Dass ich meine Beine nicht bewegen kann halte ich für eine vorübergehende Erscheinung. In der Unfallklinik Murnau die zweite Operation. Es folgt eine schwere Zeit. Nach drei Wochen zum ersten Mal im Rollstuhl vor der Klinik. In der Sonne, leichter Sommerwind, ein Flugzeug brummt am Himmel. Unvergesslich. In der Klinik das übliche Programm: Krankengymnastik, Rollstuhltraining, Lernen wie man katheterisiert usw. Meine Diagnose lautet „Querschnittslähmung inkomplett“. Natürlich interessiert mich die Prognose. Die Antworten der Ärzte sind ausweichend. Man könne noch nicht sagen, welche Nerven irreversibel geschädigt sind und welche sich nach „spinalem Schock“ wieder erholen. Es besteht jedenfalls Anlass zur Hoffnung. Mein Bettnachbar: Ein Mann Mitte 40, sprang als Jugendlicher kopfüber in flaches Wasser, seitdem hoher Querschnitt, kann nichts bewegen außer seinen Kopf. Mit einem Kran wird er aus dem Bett in den Rollstuhl gehoben. Das Buch auf einer Halterung vor seinem Gesicht wird umgeblättert wenn er mit dem Mund einem Gerät ein Signal gibt. Bemerkenswert ist: Man kann sich bestens mit ihm unterhalten und er wirkt zufriedener als mancher Zeitgenosse mit bester Gesundheit und finanzieller Ausstattung. Er beeindruckte mich stark.

 

 

„Die Sonne scheint auf für uns“

Einmal fand am Sportplatz der Klinik ein Rollstuhl-Basketballspiel statt. Der USC München gegen eine andere Mannschaft. Die „Frischverletzten“ waren als Zuschauer eingeladen. Unter den Spielern des USC erkenne ich einen alten Bekannten wieder. Ich hatte ihn mindestens 20 Jahre nicht gesehen, kannte aber sein Schicksal. Noch im Schulalter war er nach einer an sich harmlosen Operation mit Querschnittslähmung aus der Narkose erwacht. Irgendwas war schiefgelaufen. Und jetzt sehe ich ihn hier, ich frischverletzt, er langjährig im Rollstuhl. Das Basketball-Spiel war sehenswert. Die Rollstuhl-Sportler mit durchtrainierten Oberkörpern, muskulös, voller Einsatz, von Trübsinn keine Spur. Nachher unterhielten wir uns. Dem sensiblen Wolfgang entging meine Gemütsverfassung nicht. Seine Worte „die Sonne scheint auch für uns“ habe ich bis heute nicht vergessen.

 

Illusionäre Erwartungen

Es kann nicht sein, was nicht sein darf! Nicht mehr laufen und auf Berge steigen zu können war für mich nicht vorstellbar. Aber die Wochen vergingen und es wurde nicht besser. Schließlich Anfang November die Entlassung und damit auch das Ende der illusionären Hoffnungen.

 

Depression

Wie soll das alles weitergehn? Meine Altstadtwohnung im ersten Stock war alles andere als behindertengerecht, aber irgendwie kam ich mit Hilfe des Geländers die Treppen hoch zum Wohnungsrollstuhl der oben stand. Wenigstens das. Die ersten Wochen waren die schlimmsten. Meistens allein in der Bude. Probleme machten nicht unerhebliche neurogene Schmerzen und Missempfindungen. Weiterleben unvorstellbar. Was soll ich überhaupt noch hier? Im Januar 1998 Wiedereinstieg in den Beruf. Es gab wieder was zu tun und ich kam unter die Leute. Ein erster Schritt. Von Lebenslust keine Spur. Im April bekam ich ein umgerüstetes Auto. Auch wichtig. Ich war wieder mobil. Nach der Arbeit fuhr ich meistens nach Oberjettenberg und schaute zu den Wänden hoch. Wo ich früher unterwegs war. Meine Gehübungen an Krücken brachten mich immerhin 30 Meter vom Auto weg. Und vom Rollstuhl. Anfänglich ein seltsames Gefühl.

 

Blockade

Anfänglich verweigerte ich den Rollstuhl. Ich dachte, wenn ich mich nur lang genug mit den Krücken – oder „Unterarmgehstützen“ wie man sagt – mühte, müsse es ja irgendwann besser werden. Zwar kam ich schließlich ein paar hundert Meter aber das dauerte ewig und war mit ständiger Sturzgefahr verbunden. Wirklich besser wurde nichts. Nach ein paar Wochen erkannte ich die Müßigkeit meiner Bemühungen. Das Verhältnis Mühe zu Wegstrecke war einfach indiskutabel und so schluckte ich die Kröte Rollstuhl. So wurde das Leben gleich wesentlich einfacher. Die Akzeptanz des Rollstuhls war ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität. Es bringt nichts, wenn man sich gegen das Unabänderliche auflehnt. „Wer sich vom Schicksal nicht führen lässt, den zerrt es mit sich“ schrieb Seneca vor 2000 Jahren. Daran hat sich anscheinend nichts geändert. Meine psychische Verfassung blieb unverändert. Bemühungen von Freunden und Kollegen, mich auf ein anderes Gleis zu bringen, fruchteten nicht. Da gebe es durchaus Möglichkeiten für Sport, erfuhr ich wiederholt von berufener Stelle. Aber ich wollte nicht. „Behindertensport, das ist nichts für mich“, meine Standardantwort. Blumige Vergleiche, die mir durch den Kopf gingen, dass ein Bergsteiger, der die Beine nicht bewegen kann so etwas ist wie ein Fisch ohne Flossen, ein Adler ohne Flügel, ein Radl ohne Räder usw. halfen auch nicht weiter. Wenn mich jemand mit dem Rollstuhl fahren sah, zum Beispiel beim Einkaufen, war mir das peinlich und ich vermied es gesehen zu werden. So vergingen drei Jahre. 

 

Akzeptanz/Neuorientierung

Ende Januar 2000 erhielt ich von einem bekannten Berchtesgadener Verlag das Angebot, den Text für einen geplanten Bildband über das Berchtesgadener Land zu verfassen. Auf der Bergsteigerseite der regionalen Zeitung war kurz zuvor ein Bericht von mir über eine Durchsteigung der Watzmann Ostwand erschienen. So war man auf mich aufmerksam geworden. Das Thema interessierte mich und die Recherche befreite mich aus meiner düsteren Gedankenwelt.

Im Frühjahr ergab sich die Gelegenheit, das Fahren mit einem „Monoski“ zu testen. Eine Sitzschale aus Polyester wird mittels einer regulären Skibindung mit einem Ski verbunden, für die Hände gibt es Krückenskier. Zum ersten Mal in Sitzposition in der Schale festgeschnallt hatte ich zunächst keinerlei Vorstellung wie ich mit so einem Ding jemals um eine Kurve kommen soll. Aber ich hatte den Bogen schnell heraus und so fuhren wir mit dem Lift hoch und in Schwüngen wieder herunter. Laut meinem Skilehrer, der mit Monoski bereits parolympische Medaillen gewonnen hatte, hatte ich Talent. Bei Saisoneröffnung im Folgejahr im Heutal war davon leider nichts übrig. Ich hatte vergessen wie man Kurven fährt und – vor allem – wie man bremst. So kam ich von der Piste ab und meine Begleiterin bekam mich nur unter beträchtlichen Mühen wieder aus dem Tannenwäldchen heraus, in das ich mit Schwung hineingefahren war. Aber bald ging es wieder. Im Frühjahr stand dann ein Test-Handbike beim Orthopädiegeschäft. Eine Probefahrt wurde mir dringend nahegelegt. Von Lust keine Spur aber was solls, dachte ich mir. Ich wollte kein Spielverderber sein. Also fuhr ich eine Runde, von Jettenberg nach Reichenhall und über den Strailachweg zurück. Zwar ging mir schon bei geringfügigen Steigungen die Kraft aus, aber die Fortbewegung aus eigener Kraft gefiel mir von Anfang an. Das Testrad wurde gekauft und ich fuhr fleißig in der Gegend herum. Im Herbst kam ich dann immerhin schon die Großglockner-Straße von Ferleiten bis zum Fuscher Törl hoch. Erfreulich. Von ganz unten, von Fusch, fuhr ich ein paar Jahre später hinauf. Für einen Freizeitsportler schon anstrengend, aber ich hatte festgestellt, dass gelegentliches Sich-Plagen und Schwitzen bei mir die beste Methode zur Erlangung der inneren Mitte ist. 2001 kam der „Bildband Berchtesgadener Land“ heraus, ein erfreuliches Ereignis. Etwas für die Ewigkeit. Wenn ich nicht mehr bin steht das Buch immer noch in irgendwelchen Regalen herum, dachte ich mir. Ein gewisser Hang zum schwarzen Humor war mir auch als Rollstuhlfahrer nicht abhandengekommen. Dem Bildband folgten andere Buchprojekte wie „AlpenSalzStadt – auf den Spuren der Salzgeschichte“ (2009) oder das Landkreisbuch (2011) und andere. Als letztes fing ich noch mit Schlittenlanglauf an. Langlaufen im Sitzen. Fortbewegung nur durch Stockeinsatz. Auch das am Anfang wahrlich anstrengend, aber die Arme gewöhnten sich daran, es blieb ihnen ja gar nichts anderes übrig. Fünf Jahre waren seit dem Absturz vergangen. Die Fortbewegung mit dem Rollstuhl war zur Selbstverständlichkeit geworden. Keine Peinlichkeit mehr. Das Leben geht weiter. Anders, aber nicht schlechter. Was den Sport betrifft war es natürlich gewöhnungsbedürftig, dass nun alle möglichen Leute schneller vorankamen als ich. Ein hilfreicher Gedanke ist dann, dass ich eben in einer anderen Klasse starte. Wer in meiner Klasse starten will, muss erst von einem 30 Meter hohen Felsen herunterspringen. Die meisten die das tun wären dann vermutlich auch nicht schneller.

 

25 Jahre später

Resilienz. Ein schönes Wort. Bedeutet vereinfacht gesagt: Wieder auf die Beine kommen wenn etwas Schwerwiegendes passiert ist. Da gibt es 1000 Studien, aber so richtig weiß immer noch keiner was es genau ist was die einen

(wieder-)aufstehen und die anderen aufgeben lässt.

Was half mir weiter?

  • Austausch mit Gleichbetroffenen.

In Murnau Konzept: ein Vierbettzimmer war jeweils mit drei Frischverletzten und einem langjährigen „erfahrenen“ Rollstuhlfahrer, der zu irgendwelchen Untersuchungen in der Klinik weilte, belegt. So wurde für „Anfänger“ die Gelegenheit geschaffen, von den „Erfahrenen“ über alle möglichen Fragen und Belange des Lebens Antworten zu erhalten. Zu sehen wie das Leben auch im Rollstuhl gut weitergehen kann war jedenfalls sehr interessant.

  • Soziales Netz

Dass Freunde und Bergkameraden stets bemüht waren, mir bei Bedarf behilflich zu sein und sogar dafür sorgten, dass ich gelegentlich im Auto ins Almgelände des Nationalparks Berchtesgaden befördert wurde, war eine große Bereicherung meines Daseins.

  • Sport

Sport in der Natur war mir früher wichtig und ist es jetzt noch. Möglichkeiten gibt es im Sommer wie im Winter (s.o.). „Invalid“ kommt vom Lateinischen und bedeutet das Gegenteil von „validus“ = stark. Wenn man aber mit dem Handbike – also ausschließlich mit Armkraft – aufs Stilfserjoch hochkommt (2006, 1900 Hm) oder rund um die Berchtesgadener Alpen (2017, 150 km, 1500 Hm), besteht gleich weniger Anlass, sich „invalidus“ zu fühlen.

  • Zeit

Alles braucht seine Zeit. Die Neuorientierung dauerte bei mir, wie gesagt, mindestens 3 Jahre. Der wesentliche Sinn eines Auftrags, einer Beschäftigung, wie in meinem Fall das Verfassen des Buchtextes, mag wohl darin liegen, dass dabei zur Neuorientierung nötige Zeit gewonnen wird.

  • Unbekannte Ressourcen

Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich mal im Rollstuhl lande hätte ich garantiert gesagt, dass ich dann mein Leben beenden würde. Die Möglichkeit, dass man so zwar anders aber nicht schlechter leben kann, wäre unvorstellbar gewesen. Insgesamt scheint es so zu sein, dass die allermeisten vergleichbar Betroffenen nicht verzweifeln oder der Trunksucht anheimfallen, sondern die anfängliche (normale) Krise überwinden und in ein normales Leben zurückfinden. Welche bis dahin unbekannten inneren Ressourcen dazu verhelfen, das erschließt sich der Forschung kaum und darüber kann wenig Konkretes gesagt werden.

 

Was ist wichtig im Leben?

Ich halte es für möglich, dass auch andere, die so etwas einmal durchgemacht haben, dann feststellen, dass sie den Widerwärtigkeiten des Alltagslebens gelassener gegenüberstehen und an den kleinen Dingen des Lebens eine größere Freude finden als zuvor und wenn es bloß ist, dass die Sonne scheint.

 

 

Bei allen nicht wieder rückgängig zu machenden Verwundungen, die auch „Bruch“ genannt werden, ist das einzig wirksame Gegenmittel – die Zeit.

                                Paulo Coelho

                                Abkommen zum Schutz der von der Liebe Verwundeten

 

Die Erfahrung lehrt auch, dass, wenn ein großes Unglück, bei dessen bloßen Gedanken wir schauderten, nun wirklich eingetreten ist, dennoch unsere Stimmung, sobald wir den ersten Schmerz überstanden haben, im Ganzen ziemlich unverändert dasteht; und auch umgekehrt, dass nach dem Eintritt eines lang ersehnten Glücks, wir uns im Ganzen und anhaltend nicht merklich wohler und behaglicher fühlen als vorher.

                                                                          A. Schopenhauer

                                                                          Die Kunst glücklich zu sein

 

Ducunt volentem fata, nolentem trahunt

(Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen reißt es mit sich)

                                                                                            Seneca

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Bildtexte

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1   Im KrimmlerAchental.

2   Mozartradweg in Saalfelden.

3   Mit ein bisschen Schieben kommt man sogar ins Wimbachgries.

4   Schlittenlanglauf. So etwas wie Spazierengehen in der Wintersonne.

      Am Großen Ahornboden in der Eng.

5   Beim Engadin Skimarathon kann man sich ordentlich plagen. 

6   Auch ganz lustig: Monoskifahren. Man kann auch in der Sonne sitzen.

7   Murnau 1997. Nette Krankenschwestern waren anfänglich Zeit fast die einzige Freude.

     Aber es wurde dann bald etwas besser.

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