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Der Freneypfeiler auf den Mont Blanc (4807 m)

Der Freneypfeiler: eine lange und beschwerliche Reise über die direkteste Linie auf den höchsten Alpengipfel. Viel hatte ich von dieser Tour gehört und gelesen, aber nie an eine Besteigung gedacht. Vom tatenfreudigen Fitz kam die Idee, die uns nicht mehr losließ.

„Freney“: schon der Name klingt irgendwie sanft und streng zugleich. Nach einem weiten und schwierigen Zustieg zum obersten Becken des Freney-Gletschers führt die Route über den mittleren der drei Pfeiler in der Ostwand des Mont Blanc zum Gipfelgrat in 4700 Meter Höhe.

Mit einem Biwak muss immer gerechnet werden, ein schwerer Rucksack ist obligatorisch. Besonders bedenklich scheint die Möglichkeit eines Wettersturzes in der Höhe, ein Rückzug würde sich äußerst kompliziert gestalten. Geboten ist aber auch eine schöne Kletterei in bestem Granit.

Unsere Auseinandersetzung mit der Unternehmung begann schon in den Wintermonaten. Literatur wurde gewälzt und alle Informationen über Route und Zustieg gesammelt. Die Geschichte des Erstbegehungsversuchs, bei der Anfang der 60er Jahre vier der damals besten Kletterer Frankreichs und Italiens im Wettersturz ums Leben kamen, beschäftigte meine Gedanken, führte zu Beklommenheit und schlechten Träumen. Das Für und Wider von schwierigen Klettereien ist ja jedes Mal wieder so eine Sache.

Keine Mühen und Kosten wurden gescheut, unsere Ausrüstung auf den neuesten Stand zu bringen. Es ging um jedes Gramm und so kamen Leichtkarabiner, Leichtseile und Leichteisbeile in unseren Besitz. Nicht einmal an einem Aluminium-Suppenlöffel wurde gespart. Die weiteren Vorbereitungen verliefen infolge des verregneten Frühsommers vorwiegend in der Pidinger Kletterhalle. Erfreulicherweise gelang es sogar Alpinist Fritz, seine tiefsitzenden Vorurteile gegenüber künstlichen Kletterwänden zu überwinden und so bemühten wir uns dort eifrig und nicht ohne Erfolg an den festgeschraubten Griffen um eine Zunahme der Fingerkraft. Ein Wochendausflug zur zeitlos schwierigen Route von Carlesso/Sandri am Torre Trieste verlief Anfang Juni trotz der nassen Überhänge durchaus erfreulich und stärkte unser Selbstvertrauen. Unter Berücksichtigung des hundertjährigen Kalenders und der Mondphasen wurde der ideale Zeitpunkt für unser Ziel auf Mitte bis Ende Juli festgelegt.

Am 18. Juli läutet das Telefon. Als ich die Stimme von Fritz höre, ist mir sofort klar was los ist und er bräuchte eigentlich gar nicht mehr weiterzureden. Wetter und Verhältnisse passen, das heißt wir müssen so schnell wie möglich los. Am Abend des nächsten Tages um 20.15 Uhr brechen wir auf und erreichen um 3.30 in der Früh nach 750 km Autobahnfahrt das schöne Val Veny.

Ein bisschen legen wir uns noch neben das Auto in die Wiese. Dann ist Schluss mit lustig. Letzte Packmaßnahmen, schließlich schultern wir die Rucksäcke, die trotz aller Leichtausrüstung alles andere als leicht sind. Beim Aufstieg zur Gamba-Hütte erzählt Fritz von einer Begehung des Peterey-Grates vor vielen Jahren und einem Biwak am gleichnamigen Col. Sie waren zu dritt unterwegs. Dabei war auch der bei Hüttenübernachtungen allseits wegen seines fürchterlichen Schnarchens gefürchtete Reichenhaller Bergsteiger Peter H. Die oberen Atemwege von Peter sahen offensichtlich bloß wegen eines Biwaks auf 4000 Meter keinen Grund sich anders zu verhalten als gewohnt, sodass ein österreichischer Bergsteiger, obwohl in deutlicher Entfernung biwakierend, mitten in der Nacht voller Verzweiflung den zweckentfremdeten Gebrauch seines Eispickels androhte („wann des ned boid aufhead, hau i eam an Pickl eini“). Fritz hat viel erlebt in seinem Bergsteigerleben und weiß immer eine lustige Geschichte.

Nach zwei Stunden erreichen wir die Hütte in 2600 Meter Höhe. Die Hälfte der heutigen Etappe liegt hinter uns, aber die angenehmere. Nach einer längeren Rast machen wir uns am frühen Nachmittag wieder auf den Weg zum 1200 höher gelegenen Eccles-Biwak. Zwei französische Bergführer mit ihren Kunden, die zum Innominata-Grat wollen, haben das gleiche Ziel. Bald betreten wir den Brouillard-Gletscher, über dessen aufgeweichten Firn wir höher stapfen. Die Sonne gibt ihr bestes, uns in Dörrobst zu verwandeln, immer häufiger bleiben wir stehen und verschnaufen. Nach oben wird der Schnee zunehmend tiefer, am meisten plagen muss sich der erste, der die Stapfen tritt. Die naheliegende Erkenntnis, dass es in der Früh besser gegangen wäre, hilft uns jetzt auch nicht weiter.

Die Umgebung wird immer wilder, wir queren auf einem Schneeband rechts oberhalb des zerrissenen Gletschers, der auf seiner linken Seite von den Wänden, Pfeilern und Colouirs des Brouillard-Grates begrenzt wird. Von weit oben glänzen die beiden blechverkleideten Biwakschachteln herunter. Über steile Schneehänge und zum Schluss kombiniertes Gelände erreichen wir sie endlich am späten Nachmittag. Die größere Kiste ist leider schon besetzt, ein Bergführerausbildungskurs mit acht Teilnehmern, ausgerechnet hier und jetzt und Schwaben auch noch...

Etwas oberhalb unter einem überhängenden Felsblock die zweite kleinere Blechschachtel. Das Gelände ist so steil, dass man sich keinen Fehltritt erlauben darf, nicht einmal beim Pinkeln. Unsere Aufstiegsgemeinschaft bezieht das obere, wirklich sehr winzige Quartier. Fritz und ich verziehen uns mangels Platz zum Sitzen und Kochen auf ein nahes, wenig komfortables Felsband. Eindrucksvoll ist die Abendstimmung und die Aussicht von diesem exponierten Ort. Bald gehen wir ins „Bett“, die vier in den schmalen Lagern, Fritz und ich am Boden. Ich schlafe trotzdem hervorragend, bis es um 1.30 Uhr schon wieder zum Aufstehen ist. Nachdem alle lang genug herumgekramt haben, brechen wir gemeinsam auf. Über steile Schneehänge und Felsen queren wir nach links zum Gletscher. Die Bergführeraspiranten sind schon etwas voraus, die Lichtpünktchen ihrer Stirnlampen blitzen oben auf dem Hang.

Der abnehmende Mond macht nur wenig Licht, besonders im Schatten der Gratkante, hinter der wir uns befinden. Schemenhaft links die schlanken Brouillard-Pfeiler. Das Krachen eines größeren Steinschlags in einem Colouir weiter drüben unterbricht die Stille. Funken sprühen, wo die Blöcke am Fels aufschlagen. Bald ist es wieder ruhig Der Gletscher steilt sich auf und über eine letzte Firnrinne erreichen wir den Col Eccles.

Ein schmaler Platz. Auf der anderen Seite fällt eine eisdurchsetzte Schotterrinne jäh ab zum oberen Becken des Freney-Gletschers, in der Finsternis kein erbaulicher Anblick. Meine Nerven! Die anderen begehen den Grat nach links weiter, wir steigen und seilen durch die Rinne ab. Natürlich verhängt sich bei der ersten Gelegenheit das Seil. Fritz als Spezialist für Seilsalat und mistige Manöver aller Art klettert zurück und kann es freimachen. Unten angekommen finden wir am Rand des Gletschers einen steinschlaggeschützten Absatz und da es immer noch finster ist, kochen wir erst mal einen Tee. Zur Stärkung befreie ich ein Bifi-Würstchen aus seiner Plastik-Verpackung. Nie wieder. Nur mit großer Überwindung und weil ich es den ganzen Weg bis hierher getragen habe, würge ich das ekelhaft glitschige Würstchen hinunter.

Im Osten hinter dem Col Peterey zeigt sich derweil die erste Röte des neuen Tages. Rechts von uns, ganz nah, die Ostwand des Mont Blanc mit unserem Pfeiler. Im ersten Licht queren wir über Firnhänge zum Einstieg hinüber. Irgendwie bin ich nervös, steige zu weit links hinauf. Wir bemerken den Irrtum aber bald und können ohne Probleme zum richtigen Einstieg hinüber queren. Wir sind ganz allein, was überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist. Wo der Firn in Fels übergeht wechseln wir die Schuhe. Die Reibungskletterschuhe kommen an die Füße, die Plastiktreter in den Rucksack. Es geht gleich ganz ordentlich los, steile Risse in bestem sonnenbeschienen Granit. Wenn nur der Rucksack nicht wäre, dieses Monstrum. Es ist jedes Mal eine Befreiung, wenn ich ihn auf einem geräumigen Standplatz ablegen kann. Reibungslos laufen die Seillängen im Schwierigkeitsgrad 4 und 5 ab. Auf den Standplätzen besteht Gelegenheit zu Betrachtungen der Szenerie: links und rechts von uns die steilen Wände, Pfeiler und Eisrinnen der Mont Blanc Ostflanke, über deren mittleren und markantesten Pfeiler wir aufsteigen. Drüben, nicht weit weg, der berühmte Petereygrat, links der Grat der Innominata. Tief unter uns der wild zerrissene Freneygletscher, der sich unter den düsteren Wänden der Auguille Noire talwärts windet. Immer wieder ist von dort drunten das Rumpeln einstürzender Seracs zu hören, eine menschenfeindliche Welt. An unserem Pfeiler ist man vor objektiven Gefahren weitgehend sicher. Auch das Wetter könnte nicht besser sein, nur ein paar vereinzelte Schönwetterwolken segeln am blauen Himmel. Das Klettern in der Höhe ist anstrengend und auch der Durst nicht unerheblich. Früher als geplant kann ich der letzten Coladose nicht widerstehen. Leider nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Um die Mittagszeit erreichen wir die schon die Chandelle, den 80 Meter hohen, hinkelsteinartigen obersten Pfeileraufbau. Ausgedörrt und müde sind wir. Am letzten Absatz machen wir Brotzeit und kochen Tee. Ich lege mich flach und schlafe eine Weile tief und fest, während Fritz eine Zigarette raucht. Jeder auf seine Weise gestärkt macht sich Fritz an die erste der drei folgenden Seillängen, die schwierigsten der ganzen Tour und bezieht nach 30 Metern einen ungemütlichen Schlingenstand. Beim Nachklettern erschließt sich auch mir sehr deutlich, dass in dem steilen und glatten Faustriss, den Fritz gerade so scheinbar mühelos hinaufgestiegen ist, auf einige Meter keine Haken stecken. Voller Bewunderung mühe ich mich von oben gesichert hinauf.

Als ich zum Stand komme, hat Fritz bereits eingeschlafene Füße. Dennoch erfordert der folgende Quergang, der sehr dürftig mit Griffen oder Tritten ausgestattet ist, einiges Herumprobieren meinerseits. Der Reibung meiner besten Kletterschuhe behauptet sich erfreulicherweise knapp gegen die Schwerkraft und ich kann nach fünf Metern einen Haken einhängen. Weiter geht es an Haken nach rechts um die Pfeilerkante zu einem selten luftigen Schlingenstand. Zumindest beruhigend, weil unterhalb bricht die Wand völlig überhängend 200 Meter in ein unwirtliches Colouir ab, in dem Schmelzwasser rauscht und Steinschlag poltert.

Fritz klettert nach, hinter der Kante ist er nicht zu sehen. Plötzlich spannt sich das Seil und er kommt frei in der Luft einige Meter unterhalb mit Schwung um die Kante gependelt. Die Szene erinnert irgendwie an ein Kettenkarussell, nur so lustig ist es hier nicht. Was war los? Eine alte Reepschnur war gerissen und der nächste Haken drei Meter rechts eingehängt, daher der Schwung. Er pendelt wieder zurück und hängt einige Meter unter den Haken in der Luft, kann aber den Fels erreichen. Einen Grund zur Beunruhigung gibt es nicht, keiner der fünf Standhaken rührt sich auch nur einen Millimeter und mit der Halbmastwurfsicherung kann ich Fritz mühelos halten. Wenig später kommt auch er zum Stand.

Die nächste Seillänge verheißt nichts gutes: ein senkrechter Hakenriss, der oben in einen überhängenden Spalt übergeht, Schnüre baumeln herunter und ersuchen freundlich um schonende Behandlung. Um Fritz für einige Minuten die nervliche Verarbeitung seines Pendelschwunges über dem Abgrund zu ermöglichen und weil ich der leichtere bin, darf ich – ohne Rucksack auch noch – die Länge angehen. Schon mehrmals war mir aufgefallen, dass in unserer Seilschaft praktischerweise immer nur einer nervös wird, ja sogar eine momentane Nervosität des einen jeweils durch eine vorübergehende besondere Ruhe des anderen ausgeglichen wird. Über dem Stand ein dünner Spachtelhaken, dann fehlt offensichtlich einer. Mit einem Klemmkeil, in den ich meine treue Trittschlinge einhänge, komme ich über die Stelle hinweg. Dankbar betrachte ich sie, die eleganten Sprossen aus Metall, den zeitlos praktischen Fiffihaken und die blaue Fangschnur. Oft blieb sie hängen, wo sie nicht sollte, aber noch öfter war sie Retterin aus manch desperater Kletterpassage. Wir hatten nie Schwierigkeiten miteinander, auch nicht als andere – Fundamentalisten des Freeclimbing – lieber abseilten als sich an einem Haken festzuhalten und sich wohl lieber die Hand abgehackt hätten als eine Trittleiter einzuhängen.

Oberhalb gibt es keine Probleme mehr und schnell bin ich am Stand. Das Aufseilen meines Rucksackes funktioniert nicht wie gedacht, das Schwein bleibt dauernd irgendwo hängen. So muss sich Fritz elendiglich plagen mit meinem vor ihm ins Seil gebundenen Rucksack, der ihm um die Ohren schaukelt und die Expressschlingen außer Reichweite nach oben zieht. Aber das geht auch vorbei. Zwei durchaus anspruchsvolle Seillängen führen in freier Kletterei zum Pfeilerkopf. So, das Gröbste hätten wir! Auf dem winzigen Platz wechseln wir wieder die Schuhe und ziehen die Steigeisen an, nur nichts hinunter fallen lassen! Um den schlanken Pfeilergipfel sind Schlingen befestigt, von dort geht es 20 Meter in eine eisige Rinne hinunter. Auf der anderen Seite geht es weiter, ein altes Fixseil erleichtert den Aufstieg. Wie befinden uns auf 4500 Meter Höhe, zeitlos, weil Fritz seine Uhr verloren hat. So schwunglos unsere Bewegungen sind, so schnaufen müssen wir dabei. Spucke habe ich schon lange keine mehr im Mund, der Hals schmerzt von der Trockenheit. Noch 200 Meter kombiniertes Gelände zum Gipfelgrat. Auf einem schneebedeckten Absatz legen wir noch mal Pause eine Pause ein, kochen Tee und würgen aus reinem Selbsterhaltungstrieb etwas zum Essen hinunter. Der Mont Blanc wirft bereits lange Schatten ins Aostatal.

Die steilen Schneehänge und leichten Kletterstellen machen keine Schwierigkeiten mehr. Der Gipfelgrat, der im letzten Sonnenlicht hell leuchtet, kommt immer näher. Beinahe feierlich begehe ich die letzten Meter, entsteige der Ostflanke und stehe als erster am flachgeneigten Schneehang in der Sonne. Wenig später steht auch Fritz heroben. Keine Abgründe, Gefahren und Sorgen mehr um den Weiterweg, flache Hänge führen zum Gipfel, der Beschreibung nach aber immer noch 1 bis 2 Stunden.

Überschwängliche Freude kommt nicht auf, dazu sind wir zu müde. Wir legen die Seile ab und halten uns nicht weiter auf. Im Licht der untergehenden Sonne queren wir über aufgeweichte Firnhänge. Fritz, der schwerer ist, bricht bei jedem Schritt doppelt so tief ein wie ich. Ein Leidensweg, der an den letzten Kräften und Nerven zehrt. Dann der Gipfel, höchster Punkt der Alpen, eine Schneekuppe, unspektakulär, von Westen allerletztes Licht, die Täler bereits in tiefem Schatten, Wolkentürme unter uns, Nebenwelten. Ein Händedruck, kurz sitzen wir uns nieder, dann der Abstieg, unkompliziert, in einer breiten Trampelspur.

Die Vallot-Hütte, Refugium in 4300 Meter Höhe, erreichen wir in stockdunkler Nacht. Wir hatten in dieser Notunterkunft wenige, wenn überhaupt Nächtigende erwartet. Aber: Hinter der Einstiegsluke ist das Hüttchen bis zum letzten Quadratmeter von einem Durcheinander von Schläfern, Seilen, Rucksäcken und Ausrüstungsgegenständen aller Art ausgefüllt. Auf den wenigen Matratzen liegen die Menschen wie Heringe, es gibt viel zu wenig Decken, die meisten liegen, auch am dreckigen Boden, nur so da.

Fritz bittet um den Biwaksack, er halte das nicht aus. Mir ist alles egal, ich will nur schlafen. Auf den Matratzen entdecke ich zwei Schläfer, von denen einer die Beine etwas nach rechts, der andere nach links gelagert hat. In die kleine Lücke winde ich mich wie ein Aal und es gelingt mir immerhin den Oberkörper auf der Matratze unterzubringen. Trotz der wenig ansprechenden Hinterteile links und rechts von meinem Kopf schlafe ich sofort ein. Um 2 Uhr in der Früh brechen viele zum Glück schon wieder auf und es wird mehr Platz, sogar eine Decke kann ich ergattern. Jetzt ist es direkt komfortabel und ich schlafe gleich wieder ein. Im bleichen Licht des frühen Morgens bemerke ich neben mir eine reglose Gestalt, in Decken gehüllt, wie eine Mumie. Nach mehrmaligem Hinsehen erst erkenne ich Fritz, er sieht wirklich noch nicht gut aus heute. Später, als es heller wird, sehen wir dann wie dreckig es in der Hütte eigentlich ist, überall liegt Müll. Auch unser Geruchssinn erwacht und vermittelt uns, dass manche Besucher der Unterkunft aus welchen Gründen auch immer sich für dringende Geschäfte anscheinend nicht ins Freie bemüht hatten... Es graust uns und wir verlassen den Ort.

Vor der Hütte, wo es nur unwesentlich besser riecht, kochen wir kurz Tee. Wie Ameisen kommen von unten scharenweise Bergsteiger, die über den Normalweg zum Gipfel wollen, der seine Besucher heute mit einer Wolkenkappe empfängt. Kuriose Gestalten befinden sich darunter, ein Pärchen mit winzigen Brotzeitrucksäcken beispielsweise, ohne Steigeisen und Pickel, in turnschuhartigen Ledergaloschen.

Über harmlose Schneehänge steigen wir zur Goutet-Hütte hinunter. Für den Preis einer Suppe mit Mineralwasser hier könnte man woanders in einem Spezialitätenrestaurant ein ganzes Menü zu sich nehmen. Die Hütte hat auf dem einfachsten Zustieg zum Mont Blanc eben eine Monopolstellung, der Preis ist nur Ausdruck freier Marktwirtschaft, bemerkt Fritz lakonisch. Aber nach dem Frenypfeiler ist uns das sowieso egal. Weniger egal ist der 600 Meter hohe steinschlaggefährdete Schotterhang unter der Hütte, über den der Weg hinunter führt. Fritz erleidet ihn in den Innenschuhen, nachdem er die Marterung durch die Druckstellen seiner Plastikschalen lange genug ertragen musste. Als letzte gefährliche Stelle ist am unteren Ende des Hanges ein Colouir zu queren. Gerade als wir erörtern ob und wie hier mit Steinschlag zu rechnen sei – „irgendwie schon, aber so auch wieder nicht weil man ja weite Sicht nach oben hat und deshalb lang genug Zeit zu reagieren“ – hören wir von oben Geschrei und Poltern. Ein großer Stein hat sich weit oben gelöst und springt in der Geschwindigkeit annähernd des freien Falls in völlig unberechenbaren Riesensätzen auf die Querung zu. Kurz davor überspringt er den wohl zwanzig Meter hohen Begrenzungsrücken der Rinne und kollert, zum Glück deutlich verlangsamt, auf eine Gruppe zu, die sich dort auf jeden Fall in Sicherheit wähnte. Das hätten wir uns nicht gedacht, man lernt eben nie aus. Danach ist es wieder völlig ruhig und auf- und absteigende Gruppen, auch wir, queren die Rinne.

Tete Rousse, die nächste Hütte auf immer noch 3200 Meter. Die Talhöhe liegt auf 1300 Meter. Voller Freude erfahren wir von einer Zahnradbahn, die bis über 2000 Meter herauf fahren soll. Die Schneehänge links vom vielbegangenen Hüttenweg erweisen sich als bestens rutschbar und früher als gedacht, hinter einer Ecke, welch angenehme Überraschung: rot-weisse Sonnenschirme, wohlriechende Frauen in Sandalen, Männer mit Bäuchen statt Rucksäcken, Kindergeplärr... Die Zivilisation, von der Zahnradbahn heraufbefördert, hat uns wieder.

Langsam fährt die Bahn in Richtung Tal, bei dem gemütlichen Ruckeln fallen uns gleich die Augen zu. Als ich mit dem Kinn auf meine außen am Rucksack befestigten Steigeisen zum Liegen komme, wache ich wieder auf, befremdete Gesichter mustern uns. Wir passen noch nicht wirklich zu diesem Teil der Welt. Beim Freney-Pfeiler dauert alles etwas länger. Nach dem Fußmarsch vom Gipfel, der Zahnradbahn, einer Seilbahn, einer Fahrt per Anhalter, durch das Mont Blanc Tunnel mit Bus, zum Schluss noch mit dem Taxi, stehen wir am Nachmittag wieder beim Auto im Val Veni.

Alles ist wie vorher, nur wir waren oben, am Freney-Pfeiler, der von 30000 Meter höher herunter lächelt, geheimnisvoll, unnahbar, wie aus einer anderen Welt. Auf einen Berg steigen, das wäre jetzt das Allerletzte, zwei Wochen Jesolo das mindeste für unsere müden Knochen. Aber das geht schnell vorbei und bald wird uns wieder die Frage beschäftigen: „wohin fahren wir nächstes Jahr?“

Einige Wochen später: „Status Quo, die Altrocker, geben ein Konzert im Hof der Alten Saline. 10 000 Watt dröhnen aus den Lautsprechern, mindestens. Einige Tausend Menschen klatschen ekstatisch zu dem Lärm. Als der Krach am größten ist, kommt mir das Sitzen am Rand des Freney-Gletschers in den Sinn, das Warten auf den Tag in vollkommener Stille. Das sind die Kontraste des Lebens.


Bilder

1 Das muss alles in die Rucksäcke. Oje...

2 Rifugio Monzino, früher Gambahütte (2580 m) über dem Val Veny.

3 Nach einer Pause ging´s gleich weiter zum Eccles-Biwak (3850 m). Eine wildere Landschaft

kann man sich nicht vorstellen. Das Biwak steht im kombinierten Gelände am rechten Bildrand.

4 Aufstieg zum Biwak. Die Aiguille Noire mit ihrer Westwand liegt schon unter uns.

5 Blechkiste in unwirtlicher Umgebung. Das Eccles-Biwak.

6 Zwei Bergführer mit Kunden sind auch schon da. Auf einem Absatz oberhalb kochen wir erst mal Tee. 

1 Sonnenaufgang über dem Col de Peterey.

2 Am Freneypfeiler: Los gehts erst mal in kombiniertem Gelände.

3 Die eigentliche Kletterei wäre schön und nicht besonders schwierig, wenn

die blöden Rucksäcke nicht wären.

4 Kombiniertes Gelände weiter oben.

5 Grandiose Tiefblicke auf Freneygletscher und Aiguille Noire

6 An der Chandell, dem hinkelsteinartigen obersten Pfeileraufbau, warten die Schlüsselstellen.

7 Pause unter der Chandell. Jedem das Seine: Fritz raucht eine Zigarette, während ich ein Schläfchen halte.

8-9 Die erste von drei schweren Seillängen führt Fritz. Der VI. Grad in 4000 Meter Höhe.

10 Mein Gesichtsausdruck beim Nachklettern lässt auf leichte Mattigkeit schließen.

11 In der letzten schweren Seillänge. Tiefblick auf das obere Becken des Freneygletschers.

12 Blick zum benachbarten Petereygrat, hinten rechts die Grandes Jorasses.

1 Vom Ausstieg des Pfeilers darf man noch 1-2 Stunden über aufgeweichte Firnhänge zum Gipfel des Mont Blanc eiern.

2 Die Sonne ging schließlich auch unter. Wir kamen aber noch bis zur Vallot-Hütte.

3 Am nächsten Tag zurück beim Auto. Wie aus einer anderen Welt schaut der Freneypfeiler herunter. Aber wir waren oben.

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