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Seltsames Erlebnis am Hohen Göll

Mitte April 1997. Der Winter war zurückgekehrt. Tagelang hatte es bis ins Tal herunter geschneit. Auf den Bergen jede Menge Neuschnee. Endlich schien es besser zu werden. Jedenfalls gab das der Wetterbericht für die nächsten Tage so an. Das Schneien hatte aufgehört. Nur noch dicke Wolken überall. Alle Anzeichen sprachen für ein Aufklaren am nächsten Tag. Da müssen wir natürlich gleich eine Skitour gehen! Das ist klar. Wohin? Der Göll durchs Alpeltal schien gerade recht.

Da brauchte man nicht früh loszugehen. Am späten Vormittag reicht die Zeit immer noch leicht für den Gipfel. Mein Gefühl sagte mir, dass sich die Wolken in der ersten Tageshälfte vielleicht noch halten würden, aber ab Mittag würde es aufreißen, da war ich mir sicher.

Das Alpeltal ist westwärts gerichtet, gerade richtig für Nachmittagssonne.

Was schöneres gibt’s ja fast nicht als wenn in frisch verschneitem Gelände die Sonne sich gegen die Wolken durchsetzt. Blaue Löcher zeigen sich dann am Himmel, immer heller wird es, der frisch gefallene Schnee glitzert, Nebelfetzen ziehen um Grate und Kanten, bevor sie zerfließen. So stellte ich mir das vor. Am Vormittag war davon allerdings noch nicht viel zu bemerken, besser gesagt überhaupt nichts. Wie am Vortag waren die Berge in dicke Wolken gehüllt. Als wir kurz vor Mittag am Vorderbrand eintrafen, waren die meisten anderen schon wieder zurück. Wie man hörte, war niemand zum Gipfel gekommen. In den Umgängen war der Nebel so dicht, dass alle umdrehten, nachdem sie im tiefen Neuschnee in den Mulden und Hügeln dort oben ein paar mal im Kreis gegangen waren.

Sogar dem eifrigen und ehrgeizigen Reichenhaller Vollblutalpinisten, Fixei genannt,

war es nicht besser ergangen: „keine Chance, der Nebel ist so dick, dass man kaum bis zum Boden sieht...“ sprach der Fixei, als er seine Ski im Auto verräumte.

Klar, am Vormittag hätte ich da auch nicht oben sein wollen. Der Fluch des frühen Aufstehens. Aufklaren tut es ja erst ab Mittag. Bis wir oben sind scheint die Sonne über Nebelmeer, da war ich mir sicher. Lieber länger schlafen, später los und dafür schneller gehen. Das hatte nur Vorteile, gerade heute. So marschierten wir los, Gabi und ich. Mit dem schnellen Gehen war es heute allerdings nicht weit her. Gabi war zwar eine flotte Bergsteigerin, mit dem Skitourengehen hatte sie allerdings in dem Jahr erst begonnen. Und zur Einübung des Fellgehens war das steile Alpeltal mit seiner rutschigen Spur und den Spitzkehren an dem Tag reichlich ungeeignet.

So rutschte die Gabi oft in der Spur zurück und die Spitzkehren machten ihr zu schaffen.

Es wollte kein rechter Schwung aufkommen. Als dann auch noch ein Fell abging war erst einmal eine Pause angesagt. Schnell geht da gar nichts, noch dazu wenn der Kleber nicht mehr richtig pappt. Also: Fell vom Schnee freimachen, Unterhemd hoch und das Fell am Bauch (an meinem Bauch) anwärmen, Fell fest am Belag andrücken und mit dem Handballen über die ganze Skilänge streichen. In der Hoffnung, dass das blöde Fell möglichst lange hält. Natürlich ist dem Kundigen klar, dass es nie ein gutes Zeichen ist, wenn ein Fell sich einmal gelöst hat. Und so kam es auch. Die Felle gingen noch öfters ab. Mal das eine, mal das andere. Jedes mal die gleiche Prozedur, Anwärmen und so weiter... Aber irgendwie kamen wir doch höher. Es pressierte ja nicht. An der Baumgrenze wurde der Nebel erst richtig dicht, Konturen und Anhaltspunkte verloren sich gänzlich und saukalt war es auch noch, besonders wenn Wind aufkam. Immer noch kamen uns dick vermummte Gestalten von oben entgegen.

Am Hochplateau der Umgänge wurde die Orientierung dann problematisch. Ein Nebel, dass man kaum mehr sagen konnte wo vorn und hinten war. Von den Bemühungen unserer Vorgänger zeugten Nebenspuren in alle möglichen Gruben und Löcher hinein und wieder heraus. Aber irgendwie ging die Spur immer weiter. Wenn der Nebel so dicht ist, kann es sich ja nur um eine dünne Schicht handeln, dachte ich.

Was sollte schon groß passieren: wenn es wirklich nicht mehr weiter ging, brauchten wir nur in der Spur zurückfahren. Und irgendwie reizte mich die Sache auch. Bei schönem Wetter kann ja jeder hier marschieren. Aber heute? Ein schwieriger Gipfelsieg ist umso mehr wert. Noch dazu mit einer Anfängerin.

Auf meiner neuen Uhr mit Höhenmesser merkte ich mir an markanten Stellen, Mulden oder Buckeln, jeweils die Höhe. Ich probierte es zumindest. Bei meiner Vergesslichkeit ein zweifelhaftes Unterfangen, das war mir natürlich klar. Schon lange war uns niemand mehr entgegen gekommen. Wir waren offensichtlich mit Abstand die letzten heute. Als wieder einmal ein Fell abgegangen war, kam plötzlich ganu unerwartet doch noch einer daher, von unten, allein, ein junger Kerl, sehr flott unterwegs. Ein kurzer Gruß, und schon war er wieder im Nebel verschwunden.

Der augenblickliche Impuls, sofort die Verfolgung aufzunehmen und dem jungen Spund zu zeigen, dass er sich nicht einzubilden brauchte, dass er schneller gehen könnte als ich, musste heute unterdrückt werden. Was nicht leicht war. Wo kämen wir da hin, wenn man sich im ureigenen Revier von jedem jungen Hupfer überholen ließe! Vermutlich nicht einmal ein Einheimischer! Aber heute muss ich es aushalten.

Gabi ging – solange das Fell hielt – ja ganz passabel. Komischerweise hatte sie keinerlei Bedenken. Als Kenner weiblicher Verhaltensweisen im Hochgebirge war mir klar, dass den allermeisten Anfängerinnen bei den heutigen Verhältnissen schon längst jegliche Steiglust abhanden gekommen wäre.

Langsam, aber immerhin, kamen auch wir höher. Am Ende der Umgänge ist ein Hang zu queren. Der Neigungswinkel ermöglichte eine gewisse Orientierung, wenn man das Gelände gut kennt. Problematisch war das Auffinden der Rinne, die zum Salzburger Kreuz hoch zieht. Dort oben war es abgeweht und die Spur kaum sichtbar. Aber auch die Rinne fanden wir. Es hatte den Schnee hineingeweht und die Spur war wieder deutlich zu sehen. Viele waren es nicht mehr die hier noch gegangen waren, vielleicht drei oder vier, wie an den Stockabdrücken zu erkennen war.

Nun wundere ich mich doch wo unser Alleingänger geblieben ist, der ja mindestens eine Stunde vor uns am Weg ist. Eigentlich hätte der ja längst wieder an uns vorbeifahren müssen.

Dass jemand heute woanders als in der Aufstiegsspur hinunter fahren könnte, das war ausgeschlossen! Auch wenn er umgekehrt wäre oder irgendwo gerastet hätte, hätten wir ihn sehen müssen. Merkwürdig.

Eine hauchdünne Schicht hineingewehter Schneekristalle liegt in der Spur. Eindeutig erkenne ich darin die Abdrücke des Alleingängers.

Wir kommen zum Salzburger Kreuz. Hier gebe ich die Vorstellung auf, heute noch in die Sonne zu kommen. Gleich sind wir am Gipfel. Immerhin. Trotz der widrigen Umstände. Gabi hat sich wacker gehalten.

Ein breiter Rücken führt vom Vor- zum Hauptgipfel. Ich weiß genau, dass dort riesige Wächten in die Ostwand ragen. Unsere Vorgänger wussten das offensichtlich auch. Weder die Wächte noch ihre Abbruchkante sind sichtbar. Wenn man das Gelände allerdings gut kennt, kann anhand der Hangneigung beurteilt werden, ob man sich auf sicherem Boden oder auf der Wächte befindet. An der Spur ist jedenfalls nichts auszusetzen.

Der letzte Aufschwung vor dem Gipfel. Noch zwei, drei Spitzkehren. Wo ist der Alleingänger? Seine Fellabdrücke in der Spur sind immer noch deutlich zu erkennen. Die ganze Zeit hatte ich sehr aufmerksam auf sie geachtet. Je höher wir kamen umso verwunderlicher war es schließlich dass uns niemand entgegen gekommen war. Aber solange ich seine Spuren sehen konnte würde sich eine Erklärung finden. Vielleicht saß er am Gipfel und wartete auf uns?

Selten hatte ich am Berg so einen Nebel erlebt. Sicht vielleicht drei Meter. Gleich sind wir oben. Eine letzte Spitzkehre nah an der Kante, hinter der es senkrecht in die Göll-Ostwand hinuntergeht. Nach links führt die alte Spur weiter. Aber: wo sind die Fellabdrücke?

Da sind keine mehr! Ich bleibe stehen und schaue genau. Da sehe ich, dass die Abdrücke unseres Vorgängers über die Spitzkehre hinausgehen, geradeaus in Richtung der Abbruchkante. Ins Nichts.

Ich schaue noch einmal ob ich mich vielleicht getäuscht habe. Nein! Ausgeschlossen.

Sofort ist mir klar, was geschehen ist.

Auch Gabi hat die Situation erfasst.

Reglos stehen wir da, Schneekristalle rieseln, ansonsten vollkommene Stille, Nebel wie Watte, dumpf und erdrückend, Schnee und Raum sind eins.

Zwei Meter weiter, diffus sichtbar, die Abbruchkante.

Es gibt nichts zu sagen. Wir können nichts tun.

Betreten steigen wir die letzten Meter zum Gipfel hinauf, ziehen uns um und fahren gleich wieder ab. Ohne Zwischenfälle kommen wir bei einsetzender Dämmerung zum Parkplatz. Außer unserem steht dort nur noch ein Auto, einsam und verlassen.

Beim ersten Haus verständigen wir die Bergwacht.


Ende

Wie man schnell herausfand waren zwei Junge aus der Gegend um Passau zum Göll gefahren.

Der Verbleib des Zweiten war rätselhaft.

Gegen jede Logik stieg ein Trupp der Berchtesgadener Bergwacht noch mitten in der Nacht das Alpeltal hinauf. Mittlerweile hatte es bei extrem niedrigen Temperaturen aufgeklart. In den Umgängen fanden sie im steilen Schneehang unter einer Schrofenflanke den jüngeren der beiden, 16 Jahre alt. Mit schweren Erfrierungen, aber am Leben.

Was war geschehen?

Vielleicht war es so: Als sie fast oben waren (vermutlich am frühen Nachmittag) und der jüngere sah, wie sein Kamerad im Abgrund verschwand fuhr er in Panik ab. Am Grat zwischen Haupt- und Nebengipfel kam er zu weit nach rechts, und stürzte über Schnee- und Schrofenhänge in Richtung der Umgänge ab, wo man ihn in den frühen Morgenstunden fand.

Den älteren, der in die Ostwand hinab gestürzt war, fand man erst im Juni.

Rätselhaft ist jedenfalls:

Wer war der Alleingänger, dessen Abdrücke in der Spur bis zur Absturzstelle auszumachen waren? Es war ein junger Kerl im Alter des Verunglückten (der war 21). Der Unbekannte überholte uns in den Umgängen so zwischen 14.00 und 15.00 Uhr. Er ging ziemlich rasch. Danach sahen wir ihn nicht mehr. Das alles ist sehr rätselhaft. An Gespenster glaube ich aber nicht.

Wie dem auch sei:

Der Jüngere hat überlebt und die schweren Erfrierungen führten nicht zu bleibenden Schäden.

Wären wir vernünftigerweise umgekehrt wie alle anderen auch, wäre der Unfall an dem Tag gar nicht oder jedenfalls erst viel später bemerkt worden. Dann hätte der junge Bergsteiger die Nacht nicht überlebt. So hat auch Unvernunft manchmal was Gutes.

A.H. 04/1998

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