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Der Beitrag erschien etwas gekürzt am 17. 01. 2020, S. 19, im Reichenhaller Tagblatt.

Titel dort: Für die Ärmsten der Armen im Einsatz

Humanitärer Einsatz in Sierra Leone. Ein Bericht.

von Dr. Albert Hirschbichler

Die Reichenhaller Ärztin Dr. Elisabeth Klett verbrachte im Oktober 2019 ihren siebten Aufenthalt in Sierra Leone. Begleitet wurde sie in dem Jahr von Renate Ott aus Bayerisch Gmain und Larissa Kendler aus Faistenau bei Salzburg. Erstere vormals Lehrerin am Karlsgymnasium, Larissa arbeitet als Sozialhelferin in Salzburg.

Einsatzort Sierra Leone

Das westafrikanische Land Sierra Leone an der Atlantikküste zwischen Guinea und Liberia ist so groß wie Bayern und verfügt über zahlreiche mineralische Rohstoffe und auch günstige Voraussetzungen für die Landwirtschaft. Die Vorkommen an Diamanten, Bauxit, Rutil u.a., aber auch das fruchtbare Land könnten Wohlstand für viele der 7,5 Millionen Einwohner bedeuten. Tatsächlich verdienen am Abbau und Handel der Bodenschätze vor allem ausländische Konzerne und eine kleine Elite.

Nach wie vor vergibt die Regierung bereitwillig Förderlizenzen an ausländische Unternehmen ohne Verpflichtung auf menschliche Grundbedürfnisse Rücksicht zu nehmen. So schuften in den Minen Tausende, oft Kinder, unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Mit einem Pro-Kopf-Einkommen von 615 US-Dollar (im Jahr!) gehört das Land zu den ärmsten der Erde. Offizielle Landessprache ist Englisch.

Die Alphabetisierungsrate wird für 2015 mit 48,1% angegeben, d.h. nur die Hälfte der Bevölkerung kann lesen oder schreiben.

Statistisch bringt jede Frau Sierra Leones im Lauf ihres Lebens 4,26 Kinder zur Welt, zwanzig Jahre zuvor waren es noch 6,32.

Obwohl noch heute mehr als 10% der Kinder vor der Erreichung des 5. Lebensjahres sterben, beträgt der Bevölkerungszuwachs 2,15% pro Jahr (BRD: 0,27).

Völlig unzureichend ist die medizinische Versorgung. Für 20 000 Menschen steht weniger als ein Arzt zur Verfügung (BRD: 70 Ärzte). Die Ausstattung der Krankenstationen erschwert Behandlungen, es gibt kaum fließendes Wasser, Strom oder Toiletten. So verwundert es nicht, dass die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen nur 49 Jahre beträgt.

Elf Jahre Bürgerkrieg

Als 1991 eine Rebellenbewegung einige Diamantenminen unter ihre Kontrolle brachte, brach ein grausamer Bürgerkrieg aus. Elf Jahre wurde um den Zugriff auf die Bodenschätze gekämpft. Vor allem europäische Konzerne kauften die wertvollen Steine und finanzierten dadurch die Waffenkäufe aller Kriegsparteien („Blutdiamanten“). Begonnen hatte der Konflikt in der diamantenreichen Provinz Kono im Norden des Landes. Hunderttausende flohen in die Hauptstadt Freetown im Westen, wo sie sich sicher wähnten. Es half nichts. Die Truppen der Revolutionary United Front (RUF) überfielen im Mai 1999 die Hauptstadt und richteten ein Massaker mit 4000 Toten an.

Bereits Mitte der 1990er Jahre geriet die RUF in die politische und militärische Defensive und antwortete mit beispielloser Brutalität. Unglaublich und unvorstellbar erscheint die Praxis, Zivilisten Arme und Hände oder auch ein Bein abzuhacken um die Menschen von der Teilnahme an Wahlen abzuschrecken. Tausende der Rebellenkämpfer waren Kindersoldaten, die man

durch Drogen gefügig machte oder nach Erschießung der Eltern vor die Wahl stellte, sich den Rebellen anzuschließen oder zu sterben.

Insgesamt kostete der Bürgerkrieg zwischen 50 000 und 300 000 Menschen das Leben (genaue Zahlen sind nicht bekannt), 20 000 wurden verstümmelt, zehntausende Frauen vergewaltigt und hunderttausende Menschen vertrieben.

2001 wurden unter Druck der UN Friedensverhandlungen geführt, die schließlich im darauf folgenden Jahr den Krieg beendeten. Heute herrscht Frieden in Sierra Leone, aber die Folgen des Kriegen sind allgegenwärtig. Verstümmelten Menschen begegnet man immer wieder. Schwer vorstellbar erscheint, dass die Täter zu Kriegsende eine Generalamnestie erfuhren und heute vielfach in unmittelbarer Nähe ihrer Opfer leben.

Damit nicht genug: Eine Ebola-Epidemie in den Jahren 2014 bis 16 kostete etwa 4000 Menschen in Sierra Leone das Leben. Mit nachhaltigen Folgen für die Überlebenden: Viele verloren Angehörige, Kinder wurden zu Waisen.

Außerdem richteten in den letzten Jahren Schlammlawinen nach Starkregenfällen verheerende Schäden an. Wieder waren Todesopfer zu beklagen und viele verloren Hab und Gut.

Weibliche Beschneidung in Afrika

Beschneidungen, zutreffender formuliert weibliche Genitalverstümmelung, gibt es schon seit 3000 Jahren. In vielen Ländern Afrikas, in einigen Ländern des Nahen Ostens und in Teilen Asiens wird die Verstümmelung der weiblichen Scheide („female genital mutilation“, FGM), bis heute praktiziert. Weltweit wird die Zahl der Frauen, die diese Tortur über sich ergehen lassen mussten, von der WHO auf 200 Millionen geschätzt.

Vor allem afrikanische Länder weisen hohe Raten von 90% und mehr auf, Ägypten, Somalia, Eritrea, Dschibuti, Gambia, Guinea, Mali, Somalia und auch Sierra Leone.

Tradition, Riten, Mythen und archaische Konventionen lassen den Familien keine Wahl. Nur in den Städten, vor allem in der Hauptstadt Freetown, ist der Anteil infolge eines höheren Aufklärungs- und Bildungsgrades niedriger.

In den traditionellen Vorstellungen der Bevölkerung hängen die Sicherheit der Familie und die Heiratsfähigkeit der Frau davon ab. Als wesentliche Motivation kann der Wunsch nach Kontrolle und Reduzierung sexuell aktiven Verhaltens der Frau angesehen werden, das der Familienehre schadet. Hartnäckig hält sich der Mythos von der Frau als Nymphomanin, die erst durch die Klitorisentfernung zu einer „normalen“ Frau wird.

Nichtbeschnittene Mädchen riskieren soziale Ausgrenzung, für sie muss ein höheres Brautgeld bezahlt werden. Als weitere Gründe gelten abstruse medizinisch-hygienische Vorstellungen: Das Fehlen der Klitoris soll Sauberkeit garantieren und die Fertilität erhöhen. Viele Frauen glauben, ihre Religion schreibe die Verstümmelung vor und sehen das Ritual als unerlässlich für die spirituelle Reinheit und zur Erhöhung der Heiratschancen.

Häufig wird die Tortur im Rahmen von Initiationsriten durchgeführt.

In diesem Fall sind die Mädchen meist zwischen 12 und 14 Jahre alt. Möglich ist der Eingriff aber auch bereits im Säuglings- oder frühen Kindesalter und sogar erst nach der ersten Entbindung.

Der Verstümmelung wird meistens von professionellen Beschneiderinnen ausgeführt. Der Beruf zählt zu den bestbezahlten und ehrwürdigsten, oft wird den Ausübenden Zauberfähigkeit nachgesagt.

Beschnitten wird in der Regel ohne jede Betäubung mit Hilfe anderer Frauen die das Mädchen festhalten. Das Ganze unter unhygienischen Bedingungen nicht selten mit Rasierklingen, rostigen Messern etc.

Die Risiken für die Mädchen reichen von akuten Infektionen über lebenslange Schmerzen bei der Menstruation oder beim Wasserlassen bis zu vielfältigen Komplikationen im gesamten Urogenitalsystem. Nicht wenige Frauen überleben das Ritual überhaupt nicht oder sterben an den akuten Folgen. In den meisten Fällen bedeutet der Eingriff ein Leben ohne erfüllende Sexualität. Und das ist es wohl was kulturell intendiert wird bei nahezu vollständiger Tabuisierung des Themas.

Während in einer zunehmenden Zahl der Länder Afrikas diese Form der Menschenrechtsverletzung mittlerweile gesetzlich verboten ist, fehlt ein derartiges Gesetz in Sierra Leone.

Ein Paragraph wendet sich lediglich gegen die Beschneidung minderjähriger Mädchen. Bei volljährigen Frauen ist sie weiterhin legal.

Konsequenzen bei Verstößen sind kaum zu befürchten. Nachbarn, Verwandte, Freunde dulden und schweigen.

In den letzten Jahren ist ein zunehmendes Engagement verschiedener Organisationen gegen dieses so grausame wie unsinnige Ritual feststellbar.

Die bekannteste Aktivisten ist das Topmodell der 90er Jahre Waris Dirie, die im Buch „Wüstenblume“ ihr Schicksal beschrieb und nun UNO-Sonderbotschafterin gegen FGM ist. 2002 gründete sie ihre eigene Organisation, die „Desert Flower Foundation“.

Für Menschen unserer Breitengrade erscheint wenig verständlich, dass sich auch oder gerade beschnittene Frauen gegen Aufklärungskampagnen wehren.

Nach deren Argumentation flößen durch westliche Organisationen Gelder ins Land, für die manche Frauen bereit seien, ihr kulturelles Erbe aufzugeben. Die Bedeutung der Verstümmelung wird als sozio-religiöse und ästhetisch motivierte Praxis „von hohem Wert“ verteidigt, Infragestellung als Angriff auf die Identität der Frauen und nicht zu akzeptierende Beleidigung gewertet.

Der Einsatz 2019


Nach dem Flug von München aus wurden die drei am Flughafen Lungi in Sierra Leone vom Leiter der dortigen Caritas Reverend Peter Konteh abgeholt, in dessen Haus sie die erste Nacht verbrachten.

Am nächsten Tag ging es weiter zum Einsatzort, dem Waisenhaus „St. Marys Fatima Interim Care Center“ in der Nähe der Hauptstadt Freetown, wo ihnen die Bewohner einen rührenden Empfang mit Gesang und Umarmungen bereiteten.

Die Straße vom Flughafen zur Hauptstadt ist eine der wenigen asphaltierten Straßen im ganzen Land, sonst gibt es fast nur staubige und holperige Sandpisten.

Spendengelder ermöglichten 2018 den Bau des Hauses, das 28 Kindern und Jugendlichen im Alter von 6 bis 18 Jahren Kost und Logis bietet.

Die Heimleitung obliegt drei Ordensschwestern, die für alle organisatorischen Dinge bis zur Hausaufgabenbetreuung zuständig sind. Außerdem sind zwei Frauen zum Kochen und Waschen beschäftigt sowie Fahrer für den Transport der Kinder in die entfernte Schule.

Dass bald zwanzig Kinder in einem mittelgroßen Pritschenwagen transportiert werden ist mit deutschen Sicherheitsvorschriften jedenfalls unvereinbar.

Der Aufenthalt im Waisenhaus wie auch der Schulbesuch wird durch Spendengelder finanziert. Hauptgründe für die Aufnahme sind der Verlust der Eltern durch Krieg oder Ebola sowie Misshandlungen. Von einem kleinen Mädchen erfuhr man, dass es tagelang neben der toten Mutter ausgeharrt hatte, bis man es fand.


In Gästezimmern waren die drei auch untergebracht und nach dem Bezug ging es an die geplanten Aufgaben: Neben der medizinischen Ambulanz die Aufklärungsarbeit bezüglich FGM sowie Schwimmunterricht für die Jugendlichen.

Die ärztliche Ambulanz für Erwachsene und Kinder, bei der Dr. Klett eine einheimische Krankenschwester zur Seite stand, dauerte wegen des großen Andrangs täglich von Vormittag bis in den späten Abend hinein.

Behandelt wurde ein breites Spektrum von Krankheiten von Atemwegsinfekten über Bluthochdruck bis hin zu Infektionskrankheiten (Malaria, Masern etc.) sowie die Folgen von Mangelernährung und schlechter Hygiene (Vitamin A-Mangel, eitrige Entzündungen, Wurmbefall, Krätze etc.). Viele litten an Gelenkbeschwerden und Schmerzen, wobei die Einnahme von Schmerzmitteln in der Folge zu Magenproblemen führte. Einigen Menschen musste die Diagnose AIDS mitgeteilt werden. Für manche Kinder wurde nachträglich der Schulbesuch organisiert.

Außerdem wurden im Haus Informationsveranstaltungen über FGM abgehalten.

Ãœber Mundpropaganda hatte sich das Angebot schnell herumgesprochen und die

Frauen erhielten anhand von Schautafeln detaillierte Informationen über die körperlichen und psychischen Risiken und Folgeschäden des Eingriffs.

Vorträge wurden auch im eine Stunde entfernten Allen Town angeboten.

Vormals ein kleines Dorf flohen während des Krieges Zehntausende in die umliegenden Hügel, weil man sich dort besser verstecken konnte und blieben nach Kriegsende gleich dort. So war die Einwohnerzahl in kürzester Zeit auf

über 60 000 angewachsen. Dort wie auch im Waisenhaus bestand der Wunsch nach Deutschunterricht, dem gern nachgekommen wurde.

Feststellbar war, dass viele Frauen bereits Vorinformationen zum Thema FGM besaßen, was Initiativen wie Waris Dirie´s „Desert Flower Foundation“ und anderen zu verdanken ist. Zumindest in den Städten ist das Thema nicht mehr vollständig tabuisiert und die Frauen trauen sich Fragen zu stellen und ihre Meinung kundzutun.

Anders in den ländlichen Regionen: Das Vorhaben, auch „im Busch“ derartige

Informationsveranstaltungen durchzuführen, musste aufgegeben werden. Die Verantwortlichen machten unmissverständlich klar, dass sie in dem Fall keine Garantie für Leib und Leben übernehmen könnten.

Zur Verdeutlichung, womit man rechnen müsse, fuhr einer mit ausgestrecktem Daumen entlang der Kehle, eine international verständliche Geste.

Ein voller Erfolg wiederum war der Schwimmunterricht im nahen Atlantik, für den Frau Ott und Frau Kendler zuständig waren. Ein durch eine Sanddüne vom offenen Meer abgetrennter Teich diente als Basin und beim täglichen Unterricht am Nachmittag nach der Schule hatten die Jugendlichen viel Spaß. Sicher eine gute Übung zur Stärkung der Gruppenzusammengehörigkeit und des Selbstbewusstseins. Kaum jemand in Sierra Leone kann Schwimmen, obwohl der Atlantik nah ist.

Fazit


Ambulanz und Schwimmunterricht waren ein voller Erfolg.

Die Vision von einer Abschaffung der weiblichen Genitalverstümmelung aber wird noch viele Jahre Aufklärungsarbeit erfordern bei gleichzeitigen

Bemühungen um eine Erhöhung des Bildungsstandes der Bevölkerung.

Bildung bereitet den Boden für Veränderung.

Nach vier Wochen kehrten die Drei zurück mit einer Unmenge an Eindrücken aus einem Land, in dem die Menschen trotz größter Armut fröhlich und dankbar für alles sind, Eigenschaften die man bei uns immer seltener findet.

Die Ärztin Elisabeth Klett

Geboren in Bischofsheim an der Rhön als Tochter eines Richters machte sie als einziges Mädchen ihrer Klasse 1950 das Abitur. Nach dem Medizinstudium in Würzburg und Innsbruck führte sie von 1965 bis 2000 eine Praxis als Kinderärztin in Bad Reichenhall. Danach, im Ruhestand, begann sie sich für „Ärzte für die Dritte Welt“ (heute: „German Doctors“) und die „Deutsche Lepra und Tuberkulosehilfe“ zu engagieren. Seit 2001 war sie mindestens einmal im Jahr in humanitärer Mission in afrikanischen oder asiatischen Ländern unterwegs.

Etwa sechs Wochen dauern die Einsätze in der Regel, die von ihr oft genug auf eigene Initiative und Kosten durchgeführt wurden.

So war sie bereits - teilweise mehrmals - auf den Philippinen, in Bangladesch, Indien, Nicaragua, Tansania, Kenia, Pakistan und Südafrika medizinisch tätig.

Nach Sierra Leone kam sie 2009 zum ersten Mal, als dort nach dem Krieg ein Missionshospital wiedereröffnet wurde. Für 250 Betten einschließlich der Ambulanz war ein Arzt zuständig, Medikamente oder medizintechnische Geräte gab es so gut wie keine.

Es war das Land, wo ihr die Verhältnisse am meisten nahegingen und sie sich am meisten gefordert fühlte. Auf ihr Betreiben wurde die Organisation „Ärzte für die Dritte Welt“ auf das Krankenhaus aufmerksam, von der bis heute Ärzte dorthin entsandt und Gelder für den Betrieb bereitgestellt werden.

Seit ihrem dritten Aufenthalt in Sierra Leone 2014 setzt sie sich neben der ärztlichen Tätigkeit auch gegen die dort übliche weibliche Genitalverstümmelung (s.o.) ein.

Verdientermaßen erhielt Frau Dr. Elisabeth Klett wiederholt hohe Auszeichnungen für ihr humanitäres Engagement. So aus den Händen des Oberbürgermeisters Dr. Herbert Lackner 2012 das Stadtsiegel in Gold der Stadt Bad Reichenhall, 2014 von Landrat Georg Grabner im Namen des Bundespräsidenten Joachim Gauck die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland.



Bilder

1      Wartebereich vor der Ambulanz

2      Frau Dr. Elisabeth Klett behandelt einen kleinen Patienten

3      Renate Ott hilft in der Ambulanz aus

4      Deutschunterricht bei Larissa Kendler (rechts außen)

5      Die Heimleiterinnen des Waisenhauses „St. Marys Fatima Interim Care Center“ mit Dr. Klett

6      Die Heimbewohner überreichen Renate Ott eine Geburtstagstafel

7-9  Kinder sind auf der ganzen Welt reizend, was man von den Erwachsenen eher weniger behaupten kann

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