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Vorbemerkung

Ein Absturz aus beträchtlicher Höhe, in meinem Fall über 28 Meter auf den Boden, ist eine eigentümliche Erfahrung. Die meisten, die so etwas erleben, sind allerdings nicht mehr in der Lage, darüber etwas zum besten zu geben. Darum diese Zeilen.


Der Sturz

29. 5. 1997: Ein verlängertes Wochenende steht an, schönstes Wetter. Da gibt’s nur eins: Ab zum Gardasee - und zwar so schnell wie möglich! Abfahrt am Donnerstag um 5 Uhr in der Früh mit Gabi, Radl und Kletterzeug. Auf der Brennerautobahn überholen wir ein Campingmobil mit BGL Nummer, ich erkenne es als das von Michi. Es sind ja meistens immer die gleichen anzutreffen an den verlängerten Wochenenden in Arco. Um 9 Uhr kommen wir in Pietramurata an, dem Ort kurz vor Arco. Arco: Gelobtes Land der Freizeitgesellschaft. Der Gardasee ganz nah, überall Kletterfelsen mit soliden Bohrhaken und Radwege und Pizzerien. Das Wetter ist wolkenlos, es werden wohl wieder vier schöne Tage...

Kurz vor Arco liegt an der Straße Pietramurata. Dort gibt es einen schönen Campingplatz mit wenig Betrieb, im Gegensatz zum überfüllten Arco. Ich will gleich hier bleiben. An der Einfahrt treffen wir Bekannte, wir unterhalten uns, da kommt das Campingmobil auch schon daher. Michi will allerdings nicht hierbleiben, sondern auf jeden Fall nach Arco. Gesagt getan. Als wir unser Zelt aufstellen, kommt Michi mit seiner Freundin, die gerade schwanger ist, auch wieder daher. In Arco ist der Campingplatz voll, so stellen sie den Campingbus neben unser Zelt.

Was machen wir jetzt? Ein Panini mit Capucino wäre nicht schlecht.

Im Vertical-Laden kaufe ich noch einen größeren Satz Leichtkarabiner für die nächsten Gebirgstouren. Dann fahren wir zu viert los. In einer nahen Kneippe wird das weitere Programm besprochen. Da ich in mir einen unbändigen Drang zum Klettern verspüre, gibt es nur eins: so schnell wie möglich zum nächsten Felsen! Klettern! Danach kommt das Damenprogramm. Eine kleine Radtour mit Gabi, die ein wehes Knie hat. So beschließen wir es.

Alles ist wie immer, als Michi und ich zu den Felsen der „Atlantiko-Wand“ aufbrechen. Wenige Wochen zuvor war ich schon mal hier und beging die Route „Animali“, eine ausgesprochen schöne 4 Seillängen-Tour. Hierhin zieht es mich, aber was sehen wir? Gerade klettert einer los und blockiert die erste Seillänge. Da wir nicht warten wollen, beschließen wir, weiter links eine Seillänge einer anderen Tour zu begehen, um danach hier einzusteigen. Beim Hinübergehen spricht Michi von der Möglichkeit, daß man links auch weiter hinauf klettern könnte, wir lassen das aber offen nach dem Motto: „schaun wir mal...“ Ich klettere die erste Seillänge, 6 c, hervorragende Kletterei, Form bestens, erreiche den Stand, oberhalb Gras und Buschwerk. Sieht nicht besonders aus. An Weiterklettern denke ich gar nicht.

Ich hänge die Umlenkung ein, rufe „fix“ hinunter und gebe gleichzeitig mit ausgestrecktem Arm und nach unten zeigendem Daumen zu verstehen, daß ich abgeseilt werden will. Ich halte mich noch einige Zeit an der Umlenkung fest und schau mir die Gegend an, bevor ich loslasse...

Wahrscheinlich zum ersten Mal in meinem Leben, ohne beim Seilpartner noch einmal nachgefragt zu haben ob alles klar ist mit der Sicherung usw.

Was ich sonst auch immer machte: Ich hielt mich beim Abgeseilt-Werden solange am vom unten kommenden Seil fest, bis ich den Widerstand der Sicherung spürte. Das war hier aber nicht möglich, weil das Sicherungsseil vom letzten Zwischenhaken einige Meter waagrecht zur Umlenkung lief.

Ich lasse also die Umlenkung los,

falle...

Nach drei Metern denke ich mir, daß er schön langsam mal die Sicherung zumachen dürfte, im gleichen Moment die Erkenntnis: Nichts hält mehr, ich falle frei, eine sachliche Erkenntnis, kein Film läuft ab, keine Angst, ich sehe den Boden auf mich zurasen, im gleichen Moment der Aufprall, ein dumpfer Schlag, überhaupt nicht unangenehm, nach 28 Meter freiem Fall, ohne Helm, bekleidet mit kurzer Hose und Unterhemd, barfuß in den Kletterschuhen, am Boden zwischen Steinen und Wurzelstöcken, genau auf dem einzigen winzigen freien Platz, wo wir die Rucksäcke abgelegt hatten, direkt neben Michi.

Ich bin völlig klar bei Bewußtsein, in einem Zustand erhöhter Achtsamkeit.

Der Körper ist weit weg, extrem gesteigert aber ist eine nach innen gerichtete Aufmerksamkeit oder Wachheit für alles was mit mir geschieht, ohne aber den geringsten Einfluss nehmen zu können.

Mir ist klar was geschehen ist, kein Schmerz, keine Angst,

– und merke:

Ich kriege keine Luft. Das Schnaufen funktioniert nicht.

In meinem Kopf klar der Gedanke:

„wenn das nicht bald wieder wird mit dem Schnaufen, dann ist´s vorbei“.

Eine sachliche Feststellung, keine Angst, auch nicht vor dem Tod.

Es war als ob ich mir selber zugesehen hätte, an einer Weggabelung mit zwei Möglichkeiten.

Plötzlich, langsam und zaghaft setzt die Atmung wieder ein, scheinbar ohne mein Zutun, wie von außen bekomme ich es mit.

Vielleicht wurde irgendwo gewürfelt.

(Das nicht schnaufen können: mir kam es nicht lang vor.

Später erfuhr ich, dass ich so lange nicht schnaufte, dass Michi und die anderen herbei geeilten Kletterer schon an Reanimation dachten. Die Augen angeblich glasig wie bei einem angeschossenen Hirsch, wenns gleich vorbei ist.)

Der nächste Gedanke, eigentlich eine Einsicht, klar und ohne jeden Zweifel:

»Das Leben geht weiter... «

Wie ist unklar aber es geht weiter.

Bemerkenswert im nachhinein: das Fehlen jeglicher Angst.

Auch schien es mir, am deutlichsten in den ersten Sekunden nach dem Aufprall, als ob Körper und Geist doch zwei verschiedene paar Stiefel wären, und voneinander unabhängig.

Ein Eindruck, der natürlich nichts beweist.

Mittlerweile glaube ich wieder nicht daran.

Da liege ich nun.

Nach 28 Meter freiem Fall kam ich unten so auf wie ich oben losgelassen hatte, mit den Füßen zuerst. Genauer gesagt mit dem linken Fuß. Bei dem brechen drei Mittelfußknochen, außerdem zersplittert der Tibiakopf.

Davon merke ich aber nichts.

Ebenso wenig bemerke ich, dass meine Wirbelsäule gebrochen ist.

Weitere Verletzungen: eine Schramme am rechten Ellbogen, und ein Bluterguß am Hintern, wie ich später erfahre.

Man richtet mich auf und hält mich in Sitzposition.

Ich bin wie benommen, nehme nicht wahr, daß ich meine Beine nicht bewegen kann, habe auch nicht das Gefühl, schwer verletzt zu sein. Ich halte das Ganze für eine ganzkörperliche Benommenheit oder einen Schock. Glaube, dass ich nach einer Pause, wenn ich mich wieder erholt habe, zum Auto runtergehen kann.

Warten auf die Rettung, was ziemlich dauert. Ein Hubschrauber fliegt an der Wand entlang. Es gibt aber keine Landemöglichkeit. Nach 1,5 Stunden kommt ein Notarzt mit Sanitäter. Bei der aufblasbaren Trage geht die allerdings Luft aus, wieder dauert es lange Zeit bis Ersatz kommt. Als nächstes kann ich mich lediglich erinnern, daß ich von mehreren Sanitätern und Kletterern auf einer Trage durch die Stauden zur Forststraße getragen wurde, wo der Krankenwagen wartet. Dann trübt sich das Bewußtsein.

Irgendwo in der Nähe stand der Hubschrauber.

Die Verladung vom Krankenwagen in den Hubschrauber und der Flug nach Trient sind mir nicht mehr erinnerlich. Auch nicht der weitere Hubschrauberflug nach Bozen. Irgendwann, ich liege in einem Krankenbett, immer noch ohne Schmerzen, und ohne mir besondere Gedanken darüber zu machen, daß ich die Beine nicht rühren kann, kommt Gabi. Sie weint. Ich sage, daß sie sich nichts denken brauche, „mir geht es gut“, ich Esel.

Ein netter Doktor erscheint und sagt: „Sie brauchen eine Operation“... „Bitte“, sage ich.

Am nächsten Vormittag wird operiert, Gabi (als Ärztin) darf dabei sein. Ein Schraubengestell zur Stabilisierung der Wirbelsäule „Fixateur intern“ wird eingesetzt, bei Musik von Eros Ramazoti. Es folgen zwei Tage in Bozen, die ich ziemlich unangenehm in Erinnerung habe. Schmerzen. Dann Transport mit Hubschrauber nach Murnau, ein schöner Flug. Ich schaue hinunter auf die Autobahn und auf die Berge. Hinter dem Brenner ist es bedeckt und es regnet. Einmal fliegen wir nur wenige Meter über einem Grat.

Der Begleitdoktor meint, ich komme auf die Querschnittstation, was aber nichts sage. Ich lasse es mit mir geschehen, was soll ich auch sonst machen?

Die erste Diagnose in Trient lautete „Querschnittslähmung komplett“.

Was in Bozen geändert wurde in „Querschnittlähmung inkomplett“ sagte mir Gabi.

Was das bedeutet, ergründe ich erst später. Vereinfacht gesagt: komplett heißt: das Rückenmark ist gänzlich durchtrennt, nichts geht mehr je nach Verletzungshöhe, und zwar irreversibel. Inkomplett heißt: das Rückenmark ist teilweise durchtrennt oder gequetscht, mehr oder weniger viele Funktionen können erhalten bleiben oder wiederkommen, es besteht die Möglichkeit der Bildung von Umgehungsnervenbahnen, Muskeln können teilweise die Funktionen anderer Muskeln übernehmen. Es besteht Grund zur Hoffnung.

Es ist also das geschehen, wovor ich immer am meisten Angst hatte. Nach 25 Jahren unfallfreiem Bergsteigen. Keine Verletzung in der ganzen Zeit außer zweimal je ein verknackster Knöchel. Eigentlich eher ein ängstlicher Typ. Kein einziger unkontrollierter Sturz in den ganzen Jahren. Nur kleinere Stürze über sicheren Haken. In den letzten Jahren nicht einmal mehr das. Wie oft hatte ich Standplätze zusätzlich abgesichert, beim Klettern immer der Gedanke: was passiert, wenn ich an der Stelle stürzen würde. Dementsprechend wurden die Zwischensicherungen gelegt. Auch beim Skitouren-Gehen auf harschigen Hängen: Was würde passieren wenn ich ausrutschen würde? Wohin würde ich fallen? Könnte ich mich irgendwo halten? Die gleichen Gedanken für die, die mit mir unterwegs waren. In jedem Fall nur das vermeiden: Unkontrolliert fallen!

Wie dem auch sei. Niemand entgeht seinem Schicksal.

- „Schicksal“ ein reflexionswürdiges Konstrukt, das hier nicht näher erörtert werden soll.

Es folgten fünf Monate in der Unfallklinik Murnau. Hoffnungen. Zerschlagung der Hoffnungen. Entlassung und Lebensunlust. Wiedereinstieg in den Beruf. Neuorientierung. Sport. Irgendwann wird das Leben nicht schlechter wie zuvor. Aber das dauert.




Bei allen nicht wieder rückgängig zu machenden Verwundungen, die auch „Bruch“ genannt werden, ist das einzig wirksame Gegenmittel – die Zeit.

Paulo Coelho:

Abkommen zum Schutz der von

der Liebe Verwundeten

„Die Erfahrung lehrt auch, dass, wenn ein großes Unglück, bei dessen bloßen Gedanken wir schauderten, nun wirklich eingetreten ist, dennoch unsere Stimmung, sobald wir den ersten Schmerz überstanden haben, im Ganzen ziemlich unverändert dasteht; und auch umgekehrt, dass nach dem Eintritt eines lang ersehnten Glücks, wir uns im Ganzen und anhaltend nicht merklich wohler und behaglicher fühlen als vorher...“

A. Schopenhauer,

Die Kunst, glücklich zu sein

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